Johanna Schäffold:
geboren am 16. Mai 1874, geheiratet am 19. Juli 1897, siebzehn Kinder, gestorben
am 19. November 1939. So das Leben dieser Frau in kurzen Daten. Doch wer steckt
hinter der Person Johanna? Wie meisterte sie ihr Leben, ihren Alltag?
Sie wurde in
eine Zeit der konservativen Aspekte und gleichzeitig der progressiven und
liberalen Bestrebungen hinein geboren. Was davon bekam sie mit und was änderte
sich für sie? Während ihres Lebens erlebte sie ein Kaiserreich und Monarchie,
einen Weltkrieg und seine Folgen, die Weimarer Republik sowie die erste Hälfte
der Nazi-Diktatur und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Wie erlebte sie dabei
die jeweiligen Veränderungen?
Es ist nicht
auf alle diese Fragen eine Antwort zu finden, jedoch bietet die Biographie
Johannas die Möglichkeit, einen Einblick in den Frauenalltag um 1900 zu werfen,
was die Zeit um 1880/90 bis ca. 1920 umfaßt.
Johanna
wurde als uneheliche Tochter der Margaretha Amann, später verheiratete
Niederer, in Bremelau, damals Oberamt Münsingen, geboren. Als Taufdatum steht
im Kirchenbuch der 16. Mai 1874 – vermutlich kam sie am selben Tag oder nur
wenige Tage zuvor auf die Welt, da Säuglinge damals so rasch wie möglich nach
der Geburt getauft wurden. Der Beruf der Mutter wird nicht angegeben, höchstwahrscheinlich
diente sie als Magd auf einem Hof. Auch über den Vater Johannas sind keine
Angaben zu finden. War er ein Knecht, ein „Kirmesvergnügen“, der Dienstherr
selbst? All dies ist möglich. Uneheliche Kinder kamen damals häufiger vor, wie
man heute meint. Heiratsbestimmungen, wie beispielsweise der Nachweis eines
gewissen Vermögensstandes, um einen eigenen Haushalt zu gründen, machten oft
erst später eine Verehelichung möglich. Zwar sollte der Kindsvater, sofern
bekannt, eigentlich für das Kind aufkommen, also Alimente zahlen, was ihm
jedoch oft aus Armutsgründen wiederum nicht möglich war. Zudem gab es die
„Einrede wegen Mehrverkehrs“ (exceptio plurimum): wenn die Frau nicht ganz
unbescholten war, also angeblich noch mit weiteren Männern „verkehrte“, mußte
der Kindsvater wegen angeblich begründeter Zweifel an der Vaterschaft nichts
zahlen. Dieses Gesetz wurde sogar in das BGB aufgenommen und behielt bis 1969
seine Gültigkeit! So blieb die Frau allein verantwortlich für ihren
„Fehler“ und seine Folgen, nämlich das Kind.
Meist konnte
eine schwangere Dienstmagd ihre Sachen packen und mußte den Hof als
„Schande“ verlassen, obwohl Verhältnisse zwischen Dienstherrn bzw. Sohn und
Magd als „Notwendigkeit des männlichen Triebes“ meist geduldet wurden –
jedoch nicht ihre Folgen. Nach dem Wochenbett mußte sie sich dann eine neue
Stellung suchen. Die Kinder wuchsen bei den Großeltern oder anderer
Verwandtschaft, die sich dazu bereit erklärte, auf. Die Mutter sahen sie daher
eher selten, denn oft konnte sie nicht einmal an ihrem dienstfreien Tag vorbei
schauen. So erlebte auch Johanna ihre ersten Jahre höchstwahrscheinlich in
Pflege bei den Großeltern oder einer anderen Pflegefamilie. Schließlich
heiratete die Mutter dann den Laupheimer Seldner Franz Niederer, der eine kleine
Landwirtschaft mit Nebenverdienst betrieb.
„Frauasterba – koi Verderba!“
Die
Situation der Frau in ländlichen Regionen gegen Ende des 19. Jahrhunderts
gipfelt in einer traurigen Tatsache: es ist wissenschaftlich erwiesen, daß bis
in die Zwischenkriegszeit hinein vor allem Frauen in den besten Jahren (d.h.
zwischen ca. 25-40 Jahren), das bedeutet zugleich in ihren fruchtbarsten und
arbeitsamsten Jahren, eine höhere Sterblichkeit aufweisen als Männer.
Dafür gibt
es mehrere Gründe:
a)
die hohe Belastung als Gattin und Mutter: durch
rasch aufeinanderfolgende Schwangerschaften hatte sie trotz hoher Säuglingssterblichkeit
eine große Kinderschar zu betreuen, zudem übernahm sie die Pflege kranker
Familienmitglieder, auch bei gefährlichen Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera,
Typhus und den verschiedenen Kinderkrankheiten. Dadurch setzte sie sich hoher
Ansteckungsgefahr durch den Kontakt mit Kranken aus.
b)
Die hohe Belastung als Hausfrau: in der
traditionellen bäuerlichen Welt war sie gleichzeitig für die Küche, das
Waschen, Melken, die Kleinviehversorgung, die Kinderbetreuung, Garten- und mühselige
Feldarbeit verantwortlich.
c)
Schließlich auch die hohe Belastung in der
Mittlerfunktion im Rahmen umfassender Hygienisierungskampagnen seit ca. 1850 bis
ca. 1930: um die Gesundheit zu fördern, gewisse Krankheiten zu vermeiden und
Seuchen einzudämmen, sollte die allgemeine Reinlichkeit verbessert werden –
dies jedoch bei gleichen Bedingungen! Die Verantwortung hierfür lag auch bei
der Hausfrau, von der nun die Einhaltung gewisser Regeln beachtet werden
sollten, z.B. häufigeres Wasserholen vom Brunnen, um mehr sauberes Wasser zu
verwenden. Die übrige Arbeit konnte deshalb jedoch nicht eingeschränkt werden.
Gleichzeitig
intensivierte sich im 19. Jahrhundert die Landwirtschaft, bzw. die Bodennutzung,
so daß die Feldarbeiten ebenfalls zunahmen. Ein Arbeitstag von achtzehn Stunden
waren also damals keine Seltenheit. Für Erholungspausen, ruhige Mahlzeiten, Körperpflege
oder Schonung im Krankheitsfall, oder auch für die Kindererziehung blieb kaum
Zeit. Selbst schwangere Frauen mußten bis kurz vor der Niederkunft und dann
kurz danach wieder arbeiten. In dieser Zeit erreichen deshalb sowohl die Müttersterblichkeit
als auch die Totgeborenenrate und die Säuglingssterblichkeit ihre traurigen Höhepunkte.
Die Rolle der Frau als reine Arbeitskraft, die auch ersetzbar war, zeigt der
derbe Spruch: „Frauasterba – koi
Verderba! Vieh verrecka – deesch an Schrecka!“ Das alles zehrte an den
Frauen, sowohl seelisch als auch körperlich. Fotos dieser Zeit zeigen 40-50jährige
Frauen, die aussehen wie 70jährige. Auch lang andauernde, auszehrende
Krankheiten der Frauen kamen häufiger vor, gefördert noch durch häufige
Schwangerschaften, ernährungsbedingten Vitamin- bzw. Mineralienmangel und natürlich
ungenügende medizinische Versorgung und Hygiene. Die Frauen damals nahmen dies
alles jedoch als selbstverständlich hin, als die ihnen zugeordnete Rolle.
Erleichterungen begannen erst nach 1900 allmählich, und eigentlich spürbar
erst nach dem Zweiten Weltkrieg.
Auch
Johannas Mutter wird diese ihr bestimmte Rolle ausgefüllt haben. Welches Alter
sie erreicht hat, ist nicht bekannt. Angesichts der Umstände wäre es
allerdings nicht verwunderlich, wenn sie vor ihrem 50. Lebensjahr verstorben
ist.
Jedoch wird
sie ihre Rolle als Mutter, Hausfrau und Gattin an ihre Tochter weitergegeben
haben und damit auch ihre Lebensvorstellung. Johanna wuchs eher in ärmlichen
Verhältnissen auf. Später dazu gekommene Geschwister sind nicht vermerkt,
Einzelkinder waren damals andererseits sehr selten. Eventuell starben auch ihre
Geschwister bereits als Säuglinge. Ob Johannas Mutter eine Dienstmagd zur Hilfe
hatte oder weiteres Dienstpersonal auf dem kleinen Hof angestellt war, ist eher
unwahrscheinlich. Das erforderte die frühe Mithilfe des kleinen Mädchens,
dessen Alltag also früh von der Arbeit bestimmt wurde. Da die Eltern ihre
Kinder bald zur Arbeit heranziehen mußten, war auch das Verhältnis zu den
Eltern selbst oft eher distanziert. Zitate älterer Leute wie: „Ma
isch it so fei umganga mit oim!“ und
„D’Eltra hon i it so oft gsea!“ sprechen für sich.
Zunächst muß
deutlich gesagt werden: Kinder auf einem Hof wurden nicht nur als Nachwuchs,
bzw. Stammhalter oder zukünftiger Hoferbe betrachtet, sondern in erster Linie
auch als zusätzliche Arbeitskraft, welche die Eltern so bald als möglich
einsetzen wollten. Bis es soweit war, hatte die Mutter nur wenig Zeit, sich um
das Baby bzw. später das Kleinkind zu kümmern. Sie mußte bald wieder ihren
Arbeiten nachgehen, trotz Geburt und Wochenbett. Stillen war meist aufgrund häufiger
Geburten aber auch dieser hohen Arbeitsbelastung nur kurz oder gar nicht möglich.
Das Baby band die Mutter fest in ein Steckkissen ein, worin es sich so gut wie
nicht bewegen konnte und legte es in die Wiege, wo es oft stundenlang auch mal
ohne Aufsicht blieb. Auch die Windeln wurden entsprechend selten gewechselt.
Manchmal wurde wohl auch die kleine Johanna in einem Weidenkorb mit aufs Feld
genommen, oder sie durfte im Stubenwagen unter einem Baum die frische Luft genießen.
Doch sobald sie das lauffähige Alter erreicht hatte, lernte die kleine Johanna
ihr Umfeld kennen: vom Stall mit seinen Gerüchen und dem Dreck bis zu den
Schlafkammern, vom Klohäuschen bis zum Brunnen. Mit circa vier Jahren hatte sie
das Alter erreicht, mit dem man sie allmählich in die Arbeit einbinden und als
Arbeitskraft anlernen konnte. Dies bedeutete zum einen die frühe Anpassung an
schwere Arbeit und den Arbeitsalltag, andererseits aber auch das Bewußtsein,
die Eltern durch die Mitarbeit zu entlasten und auch eine frühe Selbständigkeit.
Man begann mit kleinen Handlangerdiensten, bis die Kinder meist durch Anlernen,
Zuschauen und Nachmachen auch selbständig Arbeiten übernehmen konnten. Ein längeres
Anlernen war durch den harten und geregelten Arbeitsalltag nicht möglich. Die
Kinder mußten eine rasche Auffassungsgabe besitzen und sich bald einfügen. Der
Tagesablauf sollte nicht gestört werden. Die Kindererziehung selbst blieb weit
hintenan. Sie beschränkte sich meist auf Erziehung zu Fleiß, Pünktlichkeit,
Ausdauer und Gewissenhaftigkeit. Die Arbeitsbereiche wurden
geschlechtsspezifisch verteilt: die Mädchen waren für den Küchen- und
Wohnbereich zuständig, die Jungen hauptsächlich für Stall- und Feldarbeiten.
Dazu kamen alle anderen möglichen Arbeiten wie Vieh hüten, Kartoffel oder Äpfel
klauben, „menen“ (das Zugtier führen) – Hilfeleistungen und „Knechtsg’schäftle“
aller Art. Kein Wunder, wenn die Kinder in der Schule manchmal schon morgens
einschliefen!
So wird dies
auch bei Johanna gewesen sein. Da nicht bekannt ist, ob auf dem elterlichen Hof
Dienstpersonal arbeitete oder noch Geschwister vorhanden waren, ist es durchaus
möglich, daß sie auch noch zu anderen „männertypischen“ Arbeiten
herangezogen wurde. Außerdem mußte sie vielleicht schon früh in Stellung
gehen. Schon mit neun Jahren wurden so manche Mädchen als Kleinmagd auf einen
benachbarten Hof, von wo sie auch nach Hause konnten, oder auch zeitweise in die
Fremde geschickt, wo sie dann auch die Schule besuchten. Als Lohn erhielten sie
nicht unbedingt Geld, sondern sie arbeiteten für die Schlafstelle, das Essen
und Trinken – und „mol an Schtickle in d’Ausschteier“. Für
Festlichkeiten blieb wenig Zeit, der feste Arbeitsalltag erlaubte keine längeren
Ausfallzeiten. Persönliche Feiertage wie Geburts- oder Namenstag liefen wie
jeder andere Tag ab. Vielleicht gab es ein „g’sottes Oile“ oder ein extra
„G’sälzbrot“. Auch die Erstkommunion feierten die Kinder oft ohne
Familienmitglieder, sondern im Kreis der anderen Erstkommunikanten mit dem
Pfarrer. Nur die Firmung, die zugleich den Eintritt in das Erwachsenenleben
bedeutete lief meist bewußt als Feierlichkeit für den Jugendlichen ab. Für
die jungen Mädchen bedeutete dies zugleich der Beginn der Vorbereitungszeit auf
den Ehestand. Die Firmung fiel meist mit dem Ende der Schule zusammen. In Württemberg
war der Besuch der achtjährigen Volksschule, also vom 6. bis zum 14. Lebensjahr
vorgeschrieben. Dieser Bildungsstand wurde von der Obrigkeit, aber auch von der
einfachen Be-völkerung als vollkommen ausreichend betrachtet – vor allem für
das weibliche Geschlecht.
So wettert
ein gewisser Georg Ratzinger im 19. Jahrhundert gegen die Einführung eines
siebten Schuljahres in den Volksschulen:
„Schon hat unser Schulwesen den Keim des
Verderbens in die weiblichen Dienstboten verpflanzt. Man frage nach, wo unter
den landwirthschaftlichen Mägden noch die frühere Einfachheit und Thätigkeit,
Sparsamkeit und Zufriedenheit, die Liebe und Hingabe an die Arbeit in Stall und
Feld zu finden sei? Die Mägde, welche musterhaft ihren Stall regierten ... ,
welche von früh Morgens bis spät Abends mit Eifer und heiterer Gemüthlichkeit
bei der Arbeit waren, sie sind verschwunden. Es fehlt nur noch, daß die Bäuerinnen
sich zur Kaffeetasse setzen und mit „feineren Arbeiten“ den Tag todtschlagen,
um unseren Bauernstand von Grund aus zu ruiniren. Kein Gesetz und keine
wirthschaftliche Reform kann unseren Bauernstand retten, wenn die Bäuerinnen
aufgehört haben, die Seele der Wirthschaft zu sein, den Tag und die halbe Nacht
zu sorgen in Küche und Keller, im Stall und auf dem Felde. Eine tüchtige Bäuerin
ist Tag und Nacht so beschäftigt, daß sie keine Viertelstunde Zeit findet,
sich an den Tisch zu setzen, um „feinere“ Handarbeiten vorzunehmen. ...
Man verpflanze doch auf das Land nicht die
Vielwisserei. Das Beste, was die Landschulen bieten und die Erziehung gewähren
kann, ist die Liebe zur Arbeit und Thätigkeit, zu Entbehrung und Sparsamkeit.
Demgegenüber ist es höchst gleichgiltig, ob die Bäuerin etwas besser lesen
oder schreiben kann. Das Kopfrechnen lernt sie im Hause meist besser, als in der
Schule. Die überflüssig lange Zeit, welche Kinder in der Schule zubringen müssen,
gewöhnt sie an Bequemlichkeit und Müßiggang, und das ist die schwerste
Anklage gegen das siebente Schuljahr auf dem Lande.“
Dieses Zitat spiegelt die damalige allgemeine Meinung über Frauenbildung wieder. Jungen Frauen blieb jede Möglichkeit zur höheren Bildung, wie Gymnasium oder Universität, verwehrt. Im Gegensatz zu Männern: talentierte Jungen aus einfachen Verhältnissen konnten zumindest mit entsprechender Förderung Lehrer oder Beamter werden, oder die geistliche Laufbahn einschlagen. Welche Talente Johanna besaß, die sie eventuell heutzutage hätte weiter entwickeln können, wissen wir nicht. Damals jedenfalls wäre ihr dies verwehrt worden, allein nur, weil sie ein Mädchen und dazu noch aus einfachen Verhältnissen war.
Was folgte
nach der Volksschule? Eventuell der Besuch einer Haushaltsschule, oft die
sogenannte „Winterschule“, da sie meist wochenweise im Winter abgehalten
wurde. Dort lernten die Mädchen alle Bereiche des Haushaltens – wobei
sicherlich schon viel Vorwissen mitgebracht wurde – vom Kochen bis hin zum Nähen,
eben ganz der Frauenrolle entsprechend. Vielleicht besuchte Johanna die in
Laupheim 1838 eingerichtete sogenannte „Industrieschule“, die als
hauswirtschaftliche Fortbildungsschule für Mädchen gedacht war und sich an den
Volksschulbesuch anschloß. Danach oder schon nebenbei ging die junge Frau „in
Stellung“, in der Hoffnung, auch bald einen Mann zu finden. Der sich ständig
wiederholende Kreislauf, den schon die Mutter vorlebte, begann sich zu schließen.
Die Zeit als Dienstmagd stellte zugleich die Phase eines jungen Mädchens dar,
in der sie die für sie wichtigen Arbeiten auf einem Hof lernte, um damit auch
ihre Heiratsfähigkeit herzustellen. Zur Not mußte eine jungverheiratete Bäurin
auf einem kleinen oder mittleren Hof alleine zurecht kommen können, auch unter
Umständen unter den strengen Augen der Schwiegermutter. Sie nahm die ihr
zustehende Position in der Hierarchie ein: sie war zuständig für Haus, Stall,
arbeitete während der Erntezeit und auf den Feldern mit, hatte die Aufsicht über
die Kinder und übernahm die Pflege kranker Hofangehöriger.
Eine
Stellung ist wohl auch für Johanna anzunehmen, vielleicht half sie jedoch
weiterhin auf dem elterlichen Hof mit.
Als eine
heranwachsende junge Frau von etwa sechzehn Jahren wollte sich Johanna
sicherlich auch mal vergnügen. Wenn der Arbeitsalltag mal etwas Abwechslung
erlaubte, beispielsweise abends oder am Sonntagnachmittag, dann traf man sich
mit Freundinnen und Gleichaltrigen an beliebten Treffpunkten, vielleicht dem
Dorfbrunnen oder auf dem Marktplatz. Festlichkeiten, wie Kirchweih oder
Jahrmarkt in der näheren Umgebung boten der Jugend die Möglichkeit, weitere
Gleichaltrige, und vor allem die anderen Geschlechts, kennenzulernen. Zeigte
sich dann ein gefundenes Pärchen erstmals zusammen die Straße entlang
spazierend oder gemeinsam auf einem Fest, so ging es miteinander. Gleichzeitig
taten sie ihr „Verhältnis“ der Öffentlichkeit kund. Johanna lernte ihren
vier Jahre älteren Gottfried spätestens Anfang 1893 kennen. Aus
der Liebelei wurde ein ernstes Verhältnis: zwei voreheliche Kinder, Magdalena
(8.11.1893) und Paul (2.8.1895) kamen zur Welt. Gottfried stand zu diesen beiden
Kindern, was damals nicht selbstverständlich war. Natürlich kommt die Frage
auf, warum die beiden nicht früher heirateten. Die Heiratsbestimmungen
waren damals nicht mehr so streng, auch wenn nach dem württembergischen Gesetz
vom 5. Mai 1852 ein heiratswilliger Bürger nicht nur einen „genügenden
Nahrungsstand“ sondern zusätzlich den „Besitz eines rechtmäßigen
Erwerbszweiges“ inklusive der nötigen Werkzeuge sowie ein Vermögen von
150-200 Gulden und einen guten Leumund nachweisen mußte. In manchen Gegenden
wurde ein „g’schlamperts Verhältnis“ durchaus geduldet. In einem
konservativ-katholischen Landstädtchen wie Laupheim ist dies jedoch nur schwer
vorstellbar. Es ist anzunehmen, daß Gottfried und Johanna ein „bestelltes
Haus“ wollten mit ordentlichen und sicheren Lebensverhältnissen für sich und
ihre zukünftige Familie. Die zwei Kinder konnten sie
wohl bis zur Hochzeit bei ihren oder seinen Eltern in Pflege lassen.
„E Schüssele und e Häfele ist all mei Heiretguat, des lad‘ i uf e Wägele, no‘ geits e ganze Fuahr!“
Schließlich
fand am 19. Juli 1897 die Hochzeit statt. Es ist durchaus denkbar, dass Johanna
und Gottfried auch einen Hochzeitslader engagierten, der die Gäste im Ort und
in der Umgebung persönlich, manchmal mit einem gereimten Sprüchle, einlud (und
dafür meist ein Schnäpsle oder ein Rädle Wurst erhielt). Auf dem
Hochzeitsbild sehen wir Johanna im damals üblichen schwarzen, oft zweiteiligen
Kleid, das in ihrem weiteren Lebenslauf als Festtagskleid für andere
Gelegenheiten diente, und Gottfried im schwarzen Anzug mit Gehrock und Zylinder.
Johanna trägt einen weißen Schleier, der ihr ein paar Jahrzehnte zuvor als
nicht mehr jungfräuliche Braut verweigert worden wäre. Ebenso hätte das
Brautpaar die Auflage bekommen, die Feier in aller Stille zu begehen –
vielleicht war dies noch bei der Hochzeit der Mutter der Fall gewesen. Anhand
des Bildes ist ersichtlich: Johanna war groß und stattlich, sie überragte
ihren Gottfried. Trotz ihrer Herkunft strahlt sie einen gewissen Stolz und auch
Selbstbewußtsein aus. Auch Gottfried steht aufrecht neben ihr. Er galt als eine
Seele von Mann. In welchem Rahmen die beiden ihre Hochzeit abhielten, darüber läßt
sich nur spekulieren. Üblich war damals zuerst die standesamtliche Trauung,
worauf die kirchliche folgte. Danach ging man zum Feiern mit Essen und Tanz in
einen örtlichen Gasthof. Also ein ähnlicher Ablauf wie heute. Manchmal fand
das Essen auch in kleinerem Kreise statt, danach empfing das Brautpaar im neuen
Heim weiteren Besuch. Beim Gehen überreichten die Gästen ihre Geschenke, die
„Gobe“, die oft aus Geld bestand. Das Brautpaar bedankte sich und notierte
sich den Betrag, um sich bei Gelegenheit zu revanchieren. Auf diese Weise bekam
das Brautpaar ein Startkapital für die gemeinsame Zukunft zusammen. Wichtig war
jedoch vor allem, was die Braut mit in die Ehe brachte – ob dies und damit
auch sie selbst „etwas taugte“! Wie damals üblich kam von Gottfried das
neue Heim, Bargeld, ein Grundstück, seine privaten Sachen (Kleidung, Gebetbücher,
die Taschenuhr), jedoch nur wenig an Möbeln und Hausrat, dafür aber Werkzeug.
Laut Ehevertrag brachte er weder Heiratsgut, Muttergut (seine Mutter war damals
bereits verstorben) noch Aussteuer mit ein. Von Johanna hingegen stammte fast
die gesamte Fahrnis (bewegliches Gut) und die Möbel. Nach Einzug der Braut
Johanna in das Heim ihres Bräutigams Gottfried in der Sterngasse in Laupheim
– vielleicht auch noch mit einer schön geschmückten Brautkuh am Brautwagen
– kamen wahrscheinlich zu ihr die weiblichen Verwandten und Nachbarn zur „B’schau“,
d.h. sie begutachteten und kritisierten gegebenenfalls ihre Aussteuer. Im
Mittelpunkt stand hierbei der Weißzeugschrank: er war der ganze Stolz der
Braut, auch noch zu Johannas Zeiten, und er durfte nur weiße Textilien, wie
z.B. Tisch- und Bettwäsche, beinhalten, die möglichst hoch gestapelt wurden,
um Eindruck zu schinden. Waren aber bei näherem Hinsehen die hinteren Fächer
nur mit alten Textilien oder sogar Papier ausgefüllt, so hieß es bald, bei der
Braut sei „nix dahinter“. Es ist schon bemerkenswert, daß der Wert einer
Frau in dieser Zeit beispielsweise an der Wäschemenge eingeschätzt wurde!
Johanna war sich dessen wohl bewußt, da ihre Aussteuerliste einiges an Wäsche
aufweist: z.B. 18 Oberbettziechen, 6 Unterbettziechen, 36 Kissenziechen, 21
Leintücher, 2 Bettüberwürfe, 6 Tischtücher, 6 Servietten und 27 Handtücher.
Die Liste ihrer Kleidungsstücke zeigt bereits die damalige Abwendung von der
Tracht, die Ende des 19. Jahrhunderts ihren Endpunkt gefunden hat. Johanna besaß
nämlich schon zwei schwarze Kleider für Sonn- und Festtage, sowie auch schon
je ein helles, blaues, grünes kariertes und graues Kleid, dazu sogar 21 Hemden,
jedoch keine Unterhose – das trugen Frauen damals noch nicht! Ihre für ihre
Verhältnisse doch anständige Aussteuer hatte sich Johanna sicherlich mühsam
zusammengespart, vielleicht hatte sie auch mal etwas geerbt oder von ihren
Dienstherren etwas dazu bekommen.
Vor allem
nach der Französischen Revolution 1789 wurden Theorien, die die Unterordnung
der Frau sowie ihre angeborene Sündhaftigkeit und mangelnde Intellektualität
rechtfertigten, heftig angegriffen. Gleichzeitig kam im gehobenen Bürgertum der
Gedanke auf, Frauen zu interessanteren Ehegattinnen und besseren Müttern zu
entwickeln, indem man sie ermutigte, Talente zu entwickeln, die über die häuslichen
Fähigkeiten hinaus reichten. Doch nicht gleich in Lob ausbrechen! Es wurde
keine Berufsausbildung bzw. höhere Bildung im Sinne von Wissenschaft gefordert,
sondern Frauen sollten von vielem etwas, aber nichts gründlich wissen. Zwar gab
es auch Wissenschaftler, wie z.B. der von Rousseau beeinflusste Pädagoge
Johannes B. Basedow (1724-1799), die Frauen genau so befähigt hielten wie Männer,
wenn sie nur dieselben Möglichkeiten bekämen. Sie waren jedoch die Ausnahme.
Ideal blieb das Hausmütterchen, das auch etwas Konversation betreiben konnte,
und sich möglichst aus Politik, Wirtschaft etc. heraus hielt. An der
stockkonservativen Ansicht änderte sich also nichts. Arthur Schopenhauer
schrieb noch 1851, daß die „Weiber“ weder zu geistiger noch zu körperlicher
Leistung fähig seien, sie hätten eine schwache Denkfähigkeit und existierten
„im Grunde ... ganz allein zur Propagation des Geschlechts“ und seien
„zum Gehorchen bestimmt“. Die Bestrebungen zur Verbesserung der
Frauensituation betrafen zunächst vorwiegend das Bürgertum, nicht die Frau auf
dem Lande oder im Arbeitermilieu. Die im 19. Jahrhundert entstehende
Frauenbewegung nahm sich nun dem zentralen Anliegen an, die Not der Frauen des
Proletariats zu lindern, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern sowie
Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten für die Frauen des Bürgertums zu schaffen.
Mitte des 19. Jahrhunderts kamen die ersten, zunächst vereinzelten Forderungen:
Bildung, Berufstätigkeit und aktive Teilhabe am öffentlichen Leben. Schon kurz
nach ihrer Entstehung gingen die ersten zahlreichen Frauenvereine in einer
starken konservativen Gegenbewegung unter. In den 1860er Jahren kam es zu einem
Wiederaufleben der Frauenbewegung: 1865 wurde der „Allgemeine Deutsche
Frauenverein“ in Leipzig gegründet, der sich 1894 mit anderen Einzelvereinen
zum „Bund deutscher Frauenvereine“ zusammen schloß. Zwischen 1890 und 1908
erlebte die erste Frauenbewegung mit zahlreichen anderen Vereinen ihren größten
Aufschwung – sie wurde öffentlich und zu einem politischen Faktor.
Gleichzeitig jedoch herrschten auch Gegensätze in den Vereinen selbst: schon
immer trennten sich die bürgerlichen Frauenvereine von den
Arbeiterinnenvereinen ab, die sich mehr und mehr den Sozialisten anschlossen und
sich natürlich mehr für die Verbesserung der Arbeiterinnensituation
einsetzten. Innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung gab es einen radikalen
und einen gemäßigten Flügel. Der radikale Flügel griff auch tabuisierte und
neue Themen auf, wie z.B. Prostitution, soziale Ächtung und Rechtlosigkeit
lediger Mütter, die sexuelle Doppelmoral, und er forderte zudem das passive und
aktive Wahlrecht für Frauen. Der gemäßigte Flügel hingegen engagierte sich
vorwiegend für die Frauenbildung, eine Reform der Mädchenschule und
Lehrerinnenausbildung sowie die Hochschulzulassung für Frauen. Auf andere
Themen, wie auf die Forderung nach den Frauenrechten selbst, reagierte er eher zögerlicher
und vorsichtiger, sondern setzte sich mehr für soziale Wohlfahrt und
ehrenamtliche karitative Tätigkeit ein, v.a. für die Unterschicht. Dieser Flügel
betätigte sich dann auch im Ersten Weltkrieg im Hilfseinsatz an der
Heimatfront.
Die größten
praktischen Erfolge der ersten Frauenbewegung liegen sicher im Bereich der Mädchenbildung:
1899 wird in Berlin das erste Mädchengymnasium gegründet, seit 1840 schon sind
in der Schweiz die Frauen zum Hochschulstudium zugelassen – in Deutschland
dauert es noch bis 1908.
Auch in
Laupheim gab es seit 1869 eine Lateinschule und seit 1896 eine Realschule –
beide waren jedoch sicherlich nicht von Anfang an auch für Mädchen! Noch 1905
forderte die Frauenrechtlerin Helene Lange im Programm des Deutschen
Frauenvereins „... eine Reorganisation
der höheren Mädchenschule, durch welche diese ... den höheren Knabenschulen
gleichwertig wird. Den Mädchen muß ... die Möglichkeit gegeben werden, an den
Berechtigungen der höheren Lehranstalten teilzunehmen.“
Außerdem verlangte sie die „unbeschränkte
Zulassung ordnungsmäßig vorgebildeter Frauen zu allen wissenschaftlichen,
technischen und Künstlerischen Hochschulen.“
Seit 1900
drangen Frauen immer mehr in andere Berufsfelder ein, beispielsweise als
Arbeiterin oder Lehrerin, im Bürobereich, oder sogar in akademischen Feldern.
Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg und prägnant dann während und nach dem
Zweiten Weltkrieg mußten Frauen in vielen Bereichen die fehlenden Männer
ersetzen. Dennoch wurde lange die Berufstätigkeit der Frau eigentlich nur als
Übergang zwischen Schule und Ehe geduldet, so dass es deshalb auch nicht für nötig
gehalten wurde, den Mädchen eine richtige Ausbildung zu kommen zu lassen. Die
ersten „Frauenberufe“ beschränkten sich daher nur auf das „Anlernen“,
wie z.B. Sekretärin, Stenotypistin, Verkäuferin oder Hausangestellte. Die
Frauen sollten weiterhin hauptsächlich die Rolle der Mutter und Hausfrau ausfüllen,
die sie nach ihrer Heirat erwartete. Die größten Erfolge erreichte die
Frauenbewegung eigentlich nach dem Ersten Weltkrieg: 1918 wurde im Deutschen
Reich das Frauenwahlrecht eingeführt. 1919 gingen fast 80% aller
wahlberechtigten Frauen zur Wahl, danach stellten sie 8,5% der Abgeordneten in
der Nationalversammlung und zwischen 5 und 10% in den Länderparlamenten.
Zwischen 1919 und 1933 saßen 111 Frauen im Reichstag. Dennoch blieben die
Parteispitzen meist zu über 90% in männlichen Händen, was sich lange nicht änderte.
Erst am 18. Juli 1957 wurde mit der Ausführung der Artikel 3 und 117 des
Grundgesetzes die Gleichberechtigung der Frau auf bürgerlich-rechtlichem Gebiet
hergestellt!
Was bekam
Johanna davon mit? Pochte sie eventuell in ihrer Ehe auf ihre „Rechte“? Ging
sie 1919 zur Wahl? Diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben. Allerdings hatte
sie mit ihrer wachsenden Familie, dem Haushalt und der kleinen Landwirtschaft
sicher anderes im Kopf. Von ihr wurden andere Talente beansprucht:
Organisationsvermögen, eine gewisse Disziplin, sicherlich auch Sparsamkeit,
Haushalten, aus wenig viel machen. Gottfried erwarb am 4. Juni 1897 „ledig und
volljährig“ von Alois Hefele in der Sterngasse das Gebäude 27: ein
frestehendes, zweistockiges massives Wohnhaus mit Scheuer und Stallung, einem
angebauten Schweinestall, dazugehörigem Hofraum sowie 4 ar 52m² dazugehöriges
Land für 3845 Mark, davon kamen von der Braut 1445 Mark in bar, sowie 1800 Mark
bar mittels Schuldaufnahme bei der Hospitalpflege Laupheim. Für den gestundeten
Restbetrag von 600 Mark bürgte der Schwiegervater.
In den folgenden zwanzig Jahren brachte Johanna siebzehn Kinder (fünf Jungen und zwölf Mädchen) zur Welt, die letzte, Klara, am 9.5.1917. Im Laufe der Zeit wurde das Haus den Bedürfnissen entsprechend umgebaut. Aber erst 1927 erlaubte sich die Familie ein wenig baulichen Luxus: in der nun zweckentfremdeten Scheuer richtete sie vier weitere Zimmer für die Kinder ein, das bisherige Wohnhaus erfuhr ein paar Verbesserungen, u.a. wurde eine Veranda angebaut, der alte Schweinestall-anbau wurde durch einen neuen ersetzt und eine Remise kam dazu. Vor dem Ausbau der Scheuer mußten wohl mehrere Kinder in einem Bett schlafen und im Haus herrschten wohl allgemein beengte Verhältnisse. Nach dem achten Kind (Johanna, geb. 11.2.1904) wagte Paul dem Vater zu sagen: „Jetzt kascht noch aufhöra!“ – worauf es vom Vater eine „Schell“ setzte...
Alle siebzehn
Kinder kamen, obwohl Laupheim seit 1875/76 ein Krankenhaus besaß, zu Hause zur
Welt. Eine Schwangerenbetreuung, wie wir sie heute kennen, gab es zur Zeit
Johannas in dem Sinne noch nicht. Damals wurde die Hebamme normalerweise erst
dann geholt, wenn es soweit war. Schwangere konnten sich aber auch Ratschläge
von ihr holen. Hoffen wir, dass Johanna einige Tage der Erholung im Wochenbett
hatte und sie jeweils gesund die sog. „B’seat“ der Verwandten und
Bekannten abhalten konnte, die dabei zu Besuch kamen und Mutter und Kind
Geschenke brachten. Zwei Kinder starben leider schon recht früh: Aloysia 1907
mit knapp zwei Jahren an „Darmkatarrh“ – eine damals häufig angegebene
Todesursache bei Kleinkindern – und Gottfried 1912 mit acht Monaten an einer
Lungenentzündung. Vielleicht verhalf doch die Nähe eines Krankenhauses und
damit die Chance einer relativ raschen medizinischen Versorgung zu den guten Überlebenschancen
der Schäffold’schen Kinderschar.
„I hon wieder oins ‘naufbetet“
Bis in die
Anfangsjahre des 19. Jahrhunderts hielt das Königreich Württemberg leider
einen traurigen Rekord: es hatte eine der höchsten Kindersterblichkeitsraten
Europas: 40-50% der Kleinkinder erreichten das erste Lebensjahr nicht. Im
Oberamt Laupheim waren beispielsweise zwischen 1812 und 1822 51,8% der
verstorbenen Kinder unter einem Jahr (dazu im Vergleich nur ca. 20% über 60
Jahre alt) – und daran änderte sich jahrzehntelang nichts. Als häufigste
Todesursache erscheint in den Büchern der sog. „Gichter“. Er wird mit
Magen- und Darmkrämpfen, Fieber und Durchfall beschrieben, verursacht durch
falsche Ernährung mit z.B. verdickter, angesäuerter Kuhmilch oder Mehlbrei –
beides für den jungen Organismus eines Säuglings bzw. Kleinkindes äußerst
ungeeignet. Andere Ursachen der hohen Kindersterblichkeit lagen in den damaligen
hygienischen Verhältnissen und daraus resultierenden Infektionskrankheiten,
aber auch mehr oder weniger beabsichtigte Vernachlässigung. Ja, auch das kam
vor! Sie konnte kaum kontrolliert werden, da die Todesursache auch nicht immer
eindeutig festzustellen war. Man weiß von sogenannter „postnataler“ Auslese
in ärmeren Familien, die eine große Kinderschar nicht ernähren konnten. Die
dazu gehörige Redewendung „I hon wieder oins ‘naufbetet“ zeigt aber auch
die Hoffnung, dem Kind möge es dann im Himmel besser gehen. Damals riet man
auch den Müttern, sich während des ersten Lebensjahres des Kindes gefühlsmäßig
nicht zu sehr an dieses zu binden, um dann leichter Abschied von ihm nehmen zu können.
Natürlich war es für die Mutter nie leicht, ein Kind zu verlieren, und nun
stelle man sich noch vor, dass sie den Tod mehrerer Kinder verkraften mußte.
Auch dies konnte eine Frau zermürben und sie in Selbstvorwürfen versinken
lassen, wenn da nicht immer der strenge Arbeitsalltag damals sie zeitweise davon
abhielt.
Johanna war
also noch glimpflich davon gekommen, daß sie „nur“ zwei Kinder im
Kindesalter verloren hatte. Die jüngste Tochter Klara starb 1935 mit achtzehn
Jahren an Drüsen-Tuberculose. Vielleicht spielt dabei auch ihr Ordnungssinn und
ihre penible Sauberkeit, für die sie bekannt war, eine Rolle, so daß es für
die damalige Zeit in ihrem Haushalt hygienisch relativ sauber war.
Innerhalb kürzester
Zeit hatte Johanna also viele Mäuler zu stopfen und war mit Haushalt und
Kindererziehung voll ausgefüllt. Gottfried arbeitete als Werkzeugarbeiter bei
der Firma Esslinger & Abt, die direkt hinter seinem Wohnhaus lag. Er war
also tagsüber auf Arbeit und brachte das Geld nach Hause – die damals übliche
Rollenverteilung. Sein Lohn lag 1902 für 9,5 Tagesarbeitsstunden bei 19 Mark.
Um mehr zu verdienen arbeitete er oft nach der Arbeit zu Hause weiter. Johanna
wiederum verkaufte auf dem Wochenmarkt oder durch Hausieren die eigenen
Gartenprodukte aus der Kleinlandwirtschaft, welche die Familie auf verschiedenen
Grundstücken, auch mit Kleinviehhaltung (Ziegen, Hühner, Schweine u.a.)
betrieb. Im Haushalt war Sparsamkeit angesagt: das Brot wurde selbst gebacken
und es wurden möglichst die eigenen Produkte verwertet. Bald mußten die Kinder
im Haushalt sowie bei Stall- und Feldarbeit mithelfen. Wenn möglich verdienten
sie auch bald was dazu: die Mädchen als Haushaltshilfen oder Kindsmagd, die
Jungen wohl auch mal als Hütejungen oder für Botengänge der Handwerker.
Obwohl Laupheim seit 1902 elektrifiziert war, gab es noch lange keine
elektrischen Haushaltsgeräte! Bei der Gebäudeschätzung von 1903 sind im Hause
Schäffold eine Wasserleitung und drei Glühlampen erwähnt, 1927 immerhin
bereits neun Glühlampen und eine Wasserleitung mit zwei Hahnen. Johanna „schmiß“
also ihren Haushalt ohne Waschmaschine, Staubsauger, Spülmaschine, Elektrobügeleisen,
Umluftofen, Elektroherd etc. Dies ist heute kaum mehr vorstellbar, v.a. wie bei
einer so vielköpfigen Familie damals wohl der Wäschetag aussah. Eigentlich
wurde früher nur einmal im Monat die Wäsche gewaschen – bei den Schäffolds
war dies sicherlich öfters notwendig! Gerade das Wäsche waschen galt früher
als eine der mühevollsten Arbeiten mit dem Einweichen, Einseifen und Vorwaschen
der Wäsche, dem Überbrühen mit heißer Lauge, dem Bearbeiten der Wäsche mit
dem Wäschestampfer und Bürste, oder durch „Rumpeln“ auf dem Waschbrett.
Manchmal kamen noch weitere Waschvorgänge, wie z.B. das Bläuen, Bleichen und
Stärken dazu. Obwohl die ersten selbsttätigen Waschmittel bereits nach 1900
auf den Markt kamen, setzten sie sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch,
dasselbe gilt für die Waschmaschine, die sich jedoch aus Kostengründen auf dem
Lande ebenfalls erst nach 1945 allmählich verbreitete.
Johanna galt
als penibel und war stolz auf ihren sehr gut geführten Haushalt. So mußten die
Töchter gemäß der typischen Rollenverteilung beispielsweise immer samstags
die Zimmer aufräumen und putzen. Wegen der herrschenden Raumnot lebten später
wenigstens zwei der Söhne bei den Großeltern Niederer auf dem Berg und halfen
dort sicherlich auf dem Hof mit.
Freizeitmöglichkeiten
gab es damals nur wenige – genau so wie es eben wenig Freizeit gab. Die
Mitgliedschaft in einem Verein (z.B. Schützen- oder Sportverein), im
Kirchenchor und Festlichkeiten sorgten zwischendurch für Abwechslung und
Kurzweil. Mehrere Familienmitglieder der Schäffolds sangen im Kirchenchor.
Wegen ihrer schönen Stimmen nannte man sie im Volksmund auch den
„Klein-Laupheimer Kirchenchor“. Auf Reisen ging man höchstens um zu
wallfahren oder man unternahm Tagesausflüge in Richtung Alpen oder Bodensee.
Das
konservative Denken, was die Frauenrolle betrifft, bewahrte sich auch in dieser
Familie: die Söhne erhielten eine Berufsausbildung (z.B. als Schlosser), die Töchter
gingen nach der Volksschule vielleicht noch auf eine Haushaltsschule, danach
jedoch bald „in Stellung“ und arbeiteten für die Aussteuer. Was Haushaltsführung
betrifft, so bekamen sie sicherlich von zu Hause schon einiges mit. Obwohl sie
zu dieser Zeit, auch im kleinstädtischen Umfeld, durchaus die Möglichkeit
gehabt hätten, einen Beruf zu ergreifen, fügten sie sich in diese Rolle.
Wie die
Familie Schäffold den Ersten Weltkrieg erlebte, ob der Vater oder die Söhne
eingezogen wurden, davon ist nichts bekannt. Sicherlich erlebte aber Johanna,
wenn dies der Fall war, natürlich die ganzen Sorgen und Ängste, auch in ihrem
Umfeld – schließlich waren in Laupheim 168 Gefallene zu beklagen. Und mit
Sicherheit war die Familie gerade seit 1916, als Mißernten zu Teuerungen und
Engpässen in der Lebensmittelversorgung führten, froh um die bewirtschafteten
Grundstücke.
Die Töchter
heirateten im Alter zwischen 20 und 31 Jahren, die Söhne zwischen 24 und 32
Jahren. Die älteste Tochter Magdalena blieb unverheiratet. Insgesamt hatte
Johanna schließlich 24 Enkelkinder – für eine so reiche Kinderschar relativ
wenig. Wirkte die eigene Großfamilie auf die dann erwachsenen Kinder eher
abschreckend? Wohl hatten vorwiegend die Töchter das anstrengende und mühsame
Leben der Mutter mit so vielen zu versorgenden Mäulern vor Augen.
Johanna
starb am 19. November 1939 an Herzwassersucht im Alter von 65 Jahren.
Es ist nun
interessant, wie ein bekannter Staubsauger- und Küchengerätehersteller in
einer Werbesendung inzwischen die Rolle der Hausfrau sieht: eine Ehefrau, die
mit ihrem Mann auf einem Empfang ist, wird von einer anderen Frau etwas pikiert
gefragt, was sie denn beruflich so mache. Darauf antwortet die Ehefrau –
nachdem ihr in Gedanken kurz ein paar Szenen ihres Familienlebens mit Mann,
Hund, drei Kindern und ihrem Haushalt durch den Kopf gegangen sind: „Ich führe
ein sehr erfolgreiches kleines Familienunternehmen.“
Wollen wir
hoffen, dass die Stellung der Mutter und Hausfrau zumeist inzwischen so gesehen
wird. Johanna sah ihre Stellung damals wohl als die ihr bestimmte und sicherlich
mit Bescheidenheit getragene Rolle an. Doch was könnte sie uns wohl noch über
ihr „großes Familienunternehmen“ erzählen...