Jüdische Schule in Laupheim 1821 – 1939
von
Rolf Emmerich
Bis
in die ersten Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts, galt das Gebot „lehre es deinen
Kindern“[1],
in breiten Schichten der jüdischen Bevölkerung als verbindliche religiöse
Pflicht für Vater und Mutter. Die Grundlagen der jüdischen Religion aus Torah
und Talmud den Kindern zu vermitteln, war besondere Aufgabe der Eltern.
Im jüdischen Gebet gibt es daher noch heute den elterlichen Ehrentitel: „Mein
Vater- mein Lehrer. Meine Mutter- meine Lehrerin.“
Der
Staat und die örtliche Herrschaft kümmerten sich bis 1825[2]
nicht um die Schulbildung der jüdischen Kinder. So organisierten die
Gemeindemitglieder den Unterricht in eigener Regie. Der Chronist Dr.Georg Schenk[3]
beschrieb diese vormaligen Zustände kurz und treffend:
„Die jüdischen Hausväter Laupheims waren als Händler viel
von daheim abwesend und wohl vielfach einem solchen Privatunterricht nicht
gewachsen. Sie zogen es also vor, Haus- und Wanderlehrer zu berufen, und gaben
diesen Kost und Wohnung in ihren Häusern.
Die Lehrer dieser sogenannten Winkelschulen oder Chedarim, wurden jeweils für
ein halbes Jahr verpflichtet und wechselten häufig auf Ostern oder zum Laubhüttenfest
im Herbst ihre Stellungen. Sie hatten die Kinder in Hebräisch, Lesen, Schreiben
und Rechnen zu unterrichten; für einen Knaben bekam der Lehrer sechs bis
vierzehn Gulden Schulgeld, für ein Mädchen die Hälfte. 1808 wurde in diesen
Schulen nur 39 Kinder gezählt.“ .
Das halbierte Schulgeld für Mädchen hatte sicher zwei
Ursachen: Schon im Kindesalter mußten von weiblichen Familienmitgliedern häusliche
Pflichten übernommen werden und die hebräische Sprache war für Frauen jener
Zeit nicht obligatorisch. Dementsprechend wurde der Unterricht für Mädchen
verkürzt; das Lehr- und Lesematerial dieser Einschränkung entsprechend
gestaltet. Bücher für jüdische Frauen wurden in der damaligen Umgangssprache
Jüdisch-Deutsch verfaßt und in hebräischen Lettern gedruckt. Selbst der
traditionelle Heiratsvertrag Ketuba wurde meist damit ausgefertigt. So war die jüdisch
– deutsche Sprache, auch Westjiddisch genannt, bis in die ersten Jahrzehnte
des 19. Jahrhunderts die Umgangssprache in den Judengemeinden Württembergs.
Hebräisch blieb dem Kult in Haus und Synagoge vorbehalten.
Das
Lerntempo der Schüler war zeitlich nicht streng vorgegeben. Doch es gab ein
hochrangiges Ziel für den Sprach- und Schrifterwerb: Bis zur Bar Mitzwah, also
bis zur religiösen Mündigkeit, des 13-jährigen jüdischen Knaben mußte
dieser aus den fünf Büchern Mose, der Torah, hebräisch lesen können. Diesem
Zweck entsprechend wurden besonders die Jungen der jüdischen Diaspora spätestens
ab dem vierten Lebensjahr in der Schrift der Synagoge unterrichtet. Schon in der
Mischna[4],
dem ersten Teil des Talmud, wird der Bildungsweg eines Juden weiter umrissen: Ab
einem Alter von fünf Jahren Bibelstudien, ab zehn Jahren Mischnastudien und
nach dem 15. Lebensjahr auch Talmudstudien. Diesem Ideal war vor der
Emanzipation, also vor Einführung der allgemeinen Schulpflicht, auch die
Laupheimer Kehilla[5] verpflichtet. Lebenslanges
Lernen der heiligen Schriften folgte daraus.
Das Studium sollte das ganze Leben begleiten. Dafür hatte die
Laupheimer Judengemeinde schon 1780 ihren Talmud-Torah-Verein gegründet. Torah
steht hier, im erweiterten Sinne, für die Unterweisung in den heiligen Texten.
Unter Anleitung des Rabbiners wurde da auch im Erwachsenenalter gemeinsam
gelernt. Die Synagoge rückt damit als Lehrhaus für die gesamte Gemeinde ins
Blickfeld. Gottesdienst und Lernen gehen
hierbei ineinander über, werden als Einheit aufgefaßt.
Grabinnschrift von Jetle Maier, gestorben am 05. März 1818, mit dem Hinweis auf die jüdische Schule.
Die
39 Kinder, welche 1808 die private Schule der Laupheimer Judengemeinde
besuchten, stellten nur eine Minderheit dar. Das lag an der Armut vieler Eltern,
die nicht in der Lage waren, das Schulgeld aufzubringen. Sie lebten damals noch
mehrheitlich von einem ärmlichen Hausierhandel. Ein erhellendes Beispiel dazu
liefert uns eine Grabinschrift aus dem Jahre 1818 (Bild 1).
Durch
diese Inschrift wird Frau Jetle[6]
geehrt mit dem hebräischen Ausdruck: „Le beth ha-sefer hechesika banim.“
Das heißt: „Sie hielt ihre Kinder zum Besuch der Schule an.“ [7]
Was zeigt diese Ehrung? Der Schulbesuch, selbst in der eingeschränkten Form der
Chedarim, war alles andere als selbstverständlich
und sicher nur unter großen Opfern bezahlbar. Bei fünf Töchtern und drei Söhnen
war die Herausforderung für Jetle Maier unter den damaligen Umständen
besonders groß. Dennoch erreichte diese zielstrebige Laupheimerin, daß
ihr Sohn Baruch, der spätere
Rabbinatskandidat als einer der ersten vier jüdischen Württemberger an der
Universität Tübingen immatrikuliert wurde.
Der Grabstein weist aber auch auf anderes hin: Spätestens
seit den „Memoiren der Glückel von Hameln“ ist
ja bekannt, daß bereits im 17. Jahrhundert auch jüdische Mädchen zur
Schule gingen. Frau Jetles Grabstein bestätigt uns diese Praxis
für Laupheim.
Gesetzlich geregeltes Schulwesen
Erst
nach 1825[8]
galt die allgemeine Schulpflicht auch für jüdische Kinder. Eine öffentliche jüdische
Schule ist in Laupheim seit 1821 nachweisbar. Ihre Gründung kam aufgrund örtlicher
Initiative der staatlichen Entwicklung zuvor. Rabbiner Waelder nannte sie in
seiner „Beschreibung des Rabbinats Laupheim“ von 1853: „...nahezu die älteste
im Lande.“ Damit bekamen erstmals alle Kinder den notwendigen Unterricht:
Die Lehrer Simon Tannenbaum aus Mergentheim und Abraham Sänger aus
Buttenwiesen unterrichteten in der Anfangszeit 109 Kinder zwischen 5 und 13
Jahren im Saal des Gasthauses „zum Rad“. Im Jahre 1828 erwarb die Jüdische
Gemeinde das heutige Hotel „Württemberger Hof “ welches in der Folgezeit
als Rabbinats-, Schul- und Gemeindehaus diente. Im Erdgeschoß wurden zwei
Schulräume eingerichtet. Kostenfrei war diese Pflichtschule für die Laupheimer
Judengemeinde auch jetzt noch nicht. Noch im Jahre 1845 mußten die Laupheimer
Juden, im Gegensatz zur christlichen Bevölkerung, alle Schulkosten selber
tragen.[9]
Wie beengt auch daher die Situation im Rabbinatshaus (Bild 2 ) war, wird
deutlich, wenn man die gesamte Nutzung dieses Gebäudes betrachtet: zwei
Klassenzimmer, eine Lehrerwohnung, die Wohnung des Rabbiners und dessen Büro
waren hier gleichzeitig untergebracht. Rabbiner Abraham Waelder befand bereits
1852 „die zwei länglichen Schullokale für die 140 Schulkinder“ als
„finster und unzweckmäßig.“
Die
jüdische Bevölkerung und die Schülerzahl nahmen weiter zu,
daher wurde 1868 ein neues Schulhaus in der Radstraße (Bild 3) erbaut.
In drei Klassenzimmern wurden dort im Jahre 1874
schließlich 162 Schüler unterrichtet.
In diesem Gebäude befand sich seit 1868 die jüdische Schule in Laupheim.
Das Gebäude wurde 1969 abgerissen.
Die
Einführung der Schulpflicht 1825 führte zu einer völligen Umwälzung des jüdischen
Bildungswesens. Stand vordem die religiöse Unterweisung, die hebräische
Sprache, Torah und Talmud im Mittelpunkt des Unterrichts, so schrumpften diese
nun zu einem Schulfach unter anderen. Ein Erlaß bestimmte: „Beim Lehrplan ist
hauptsächlich auf richtige Erlernung der deutschen Sprache das Augenmerk zu
richten, und die hebräische Sprache ....doch mehr als Nebensache zu
behandeln.“[10]
Nachdem
die Katholiken Württembergs seit 1808 und die Protestanten seit 1810 in
Schulgesetze eingebunden waren, wurden nun auch die jüdischen Kinder vor dem
Gesetz gleichgestellt. Den Vorgaben zufolge konnten „die Israeliten ihre
Kinder entweder in die öffentliche Orts-Elementarschule schicken“ oder mit
staatlich geprüften Lehrern Israelitische Elementarschulen gründen. Letztere
Schulart für jüdische Schüler wurde vor
allem in den ländlichen Synagogen-Gemeinden Württembergs eingerichtet. Dies
sollte Chancen auf eine jüdische Orientierung der Erziehung sichern. Im Rahmen
der staatlichen Lehrpläne war das jedoch nur sehr begrenzt möglich.
Die
Rabbiner versuchten jahrzehntelang die durch die „Verweltlichung“ des
Bildungswesens entstandene Lücke
durch eine „Sonntagsschule“ mit religiöser Unterweisung zu schließen.
Mittels regelmäßiger mündlicher Prüfungen wurden deren Ergebnisse
kontrolliert. Ein Protokoll vom Februar 1872 nennt
dafür 48 Knaben und 20 Mädchen als Prüflinge; das waren nur etwa die Hälfte
der Laupheimer jüdischen Schüler.
Ca. 1905 stellen sich die Teilnehmer der jüdischen Schule mit ihrem Lehrer May Haymann dem Fotografen.
Die
neu gewachsenen Judengemeinden der größeren Württembergischen Städte waren
mehrheitlich an Assimilation interessiert. Das schlug sich auf das Schulangebot
nieder. Eine eigene Schule hätte,
nach dortigem Verständnis, die erstrebte Integration eher behindert. So haben
z.B die neu aufstrebenden jüdischen Gemeinden
in Ulm und Stuttgart, bereits in der Mitte des 19.Jahrhunderts, ihre Kinder in
konfessionell gemischte Schulen geschickt. Dabei blieb es fast bis zum
gewaltsamen Ende dieser Gemeinden. Auch den Laupheimern blieben nur religiös
gemischte Lehranstalten, wenn die Schüler eine Realschule oder ein Gymnasium
besuchen sollten.
Zwar
betrieb der Buchauer Rabbiner Dr. Michael Güldenstein einige Jahre lang
eine Schule mit dem Anspruch „wahrhaft religiöse Israeliten zu bilden, deren
Kenntnisse nicht hinter den Erfordernissen der Zeit zurückbleibt“. Immerhin
wurden da, in einer Zeitungsanzeige vom Jahre 1856, neben Hebräisch weitere
vier Fremdsprachen offeriert. Der Rabbiner bot jedenfalls 30 neun- bis sechzehnjährigen
Schülern Internatsplätze an. Doch die meisten Laupheimer, die weiterführende
Schulen besuchten, gingen offensichtlich in die Laupheimer Lateinschule, nach
Ulm oder Stuttgart in konfessionell gemischte Lehranstalten. So wissen wir z.B.
von dem Bankier und Mäzen Dr.Kilian von Steiner, daß er vor seinen Tübinger
Studien die Gymnasien in Ulm und Stuttgart besuchte.
Die
Laupheimer städtische Latein- und Realschule, 1868 im Rabinatsgebäude gegründet,
hatte von Anfang an unverhältnismäßig viele jüdische Schüler. Das
Bildungsstreben der Gemeindemitglieder wurde durch Stiftungen für bedürftige
Schüler und den Leseverein Konkordia stark gefördert. Galt die jüdische Bevölkerung
am Anfang des 19. Jahrhunderts, im öffentlichen Urteil, als ungebildet und rückständig,
sollte sich dies in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ins Gegenteil verändern.
Die Lehrer der jüdischen Schule Laupheim
Vor
der gesetzlichen Regelung des jüdischen Schulwesens waren häufig wechselnde
Wanderlehrer, ohne pädagogische Ausbildung üblich. Meist hatten sie die
Jeschiwa[11]
in Mühringen oder Fürth besucht. Das schmale und unsichere Einkommen erlaubte
ihnen meist nicht, eine Familie zu gründen. So blieb die Unterrichtstätigkeit
oft nur ein Durchgangsstadium zu einem anderen Beruf.
Nach
Einführung des Schulgesetzes von 1825 mußten die Lehrer eine pädagogische
Ausbildung am evangelischen Seminar in Esslingen absolviert haben. Die jüdischen
Pädagogen wurden dort seit 1823 von dem Lehrer Leopold Liebmann ausgebildet;
der übte diese Schlüsselrolle über 50 Jahre aus. Das Ziel, von der königlichen
Regierung vorgeschrieben, waren jüdische Lehrer, die zugleich auch Vorsänger-Funktion in der Synagoge übernehmen sollten. Die Lehrer waren demnach in der
Schule als Beamte des Staates eingesetzt und in der Synagoge mit der Leitung des
Gottesdienstes beauftragt. Sicher war dies eine zwiespältige Regelung. Verstärkt
wird dieser Eindruck, wenn man bedenkt, daß die Aufsicht über die jüdischen
Schulen von den christlichen Kirchen auszuüben war. In Zeiten, da Rabbiner und
Pfarrer freundschaftlichen Umgang pflegten,[12]
gab es damit keine besonderen Probleme.
Moritz Henle von 1868 - 1873 Lehrer und Kantor in Laupheim
Exemplarische
Passagen aus dem Leben zweier Laupheimer Lehrer in der zweiten Hälfte des
19.Jahrhunderts seien kurz
skizziert:
Der
Leiter der jüdischen Schule von 1863 bis 1887 war Alexander Elsässer.
Der im Dezember 1817 in Freudental geborene Elsässer galt landesweit als
profilierter Vertreter der jüdischen Lehrerschaft.[13]
Als einziger Jude gehörte er über viele Jahre der landesweiten
Lehrplankommission an. Anläßlich seiner Pensionierung wurde ihm eine königliche
Verdienstmedaille verliehen. Er verfaßte in seiner Freizeit volkstümliche
Gedichte, was ihm einige öffentliche Anerkennung brachte.[14]
Die Zeit seiner Berufung nach Laupheim deutet darauf hin, daß der damalige
Rabbiner Abraham Waelder den Pädagogen angeworben hatte.[15]
Ein
anderer typischer Werdegang eines jüdischen Lehrers und Kantors im späten 19.
Jahrhunder sei hier außerdem skizziert: Nach
zwei Jahren am Stuttgarter Konservatorium und vier Jahren im Esslinger
Lehrerseminar kam 1868 der gebürtige Laupheimer Moritz Henle (Bild 4),18-jährig,
als Lehrer zurück. Der jüdischen Gemeinde diente er zudem bald auch als
Vorsänger, Kantor und Chorleiter; als 21- jähriger komponierte er
bereits die Friedenshymne der Laupheimer Chöre am Ende des Krieges 1871. Später
amtierte Henle sechs Jahre als Kantor an der neu erbauten Ulmer Synagoge und als
Religionslehrer an Ulmer Schulen. Die Verknüpfung dieser beiden Berufe ergab
sich ja durch die Ausbildung und die Vorgaben der Königlich Israelitischen
Oberkirchenbehörde.
Nach der zweiten Dienstprüfung für das Lehramt im Jahre 1877
folgte Henle einer Berufung nach
Hamburg, wo er über 35 Jahre als Oberkantor, Komponist [16]und
Religionslehrer wirkte. In der Hamburger Tempel der Reformgemeinde war er ein früher
Pionier bei Fortbildung von Berufskollegen und in der Erwachsenenbildung.
Die Schule im 20.Jahrhundert
Die
Laupheimer„Israelitische Schule“(Bild 5) hatte, laut Katholischem
Schulinspektorat Laupheim von 1908[17],
als reine Grundschule nur noch 30 Schüler. Neben dieser einklassigen Schule
waren zwei städtische Realschul-Klassen und
eine Lehrerwohnung im jüdischen Schulhaus in der Radstraße untergebracht. Die
Zahlen zeigen uns, daß im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bereits etliche
junge jüdische Familien aus
Laupheim abgewandert waren. Nach 1924 konnte Lehrer Wilhelm Kahn die Schule nur
noch als private Anstalt unter Leitung des Württembergischen Oberrats der
Israeliten weiterbetreiben. Wie in anderen Kleinstädten auch, war die Schülerzahl
für eine staatlich finanzierte Konfessionsschule zu klein geworden.
Heinz Säbel, der letzte jüdische Lehrer in Laupheim
Neun
Jahre später erzwang die mörderische Situation in Nazi - Deutschland die völlige
Absonderung jüdischer Kinder
aus allen staatlichen Schulen. Ein Reichsgesetz vom 25. April 1933, exekutiert
vom Württembergischen Kultusministerium, gipfelte in der Anordnung: „Die Zahl
der nichtarischen Schüler je Schule darf den Anteil der Nichtarier an der
reichsdeutschen Bevölkerung nicht übersteigen.“ Schulkinder jüdischer
Religion galten nach dieser Diktion als „Nichtarier“. Unter ein Prozent mußte
also der jüdische Schüler-Anteil
gesenkt werden. Die Bedrückung der „nichtarischen“ Schüler in den weiterführenden
Schulen wuchs zusehends. Etliche Lehrer und Mitschüler leisteten dazu ihren
miserablen Beitrag. Nur einzelne junge Laupheimer
konnten nach 1933 als Internatsschüler im jüdischen Schullandheim Herrlingen unterkommen.
Eine einklassige jüdische Volksschule mit Kindern aus acht
Klassenstufen war in Laupheim das Ergebnis der äußeren Schikanen. In den größeren
Städten des Landes, wie Stuttgart und Ulm, wurden in der Folge erstmals jüdische
Elementarschulen notwendig; welche Zwänge und Nöte sich hinter dieser Aussage
verbergen, können wir höchstens erahnen. Weiterführende Schulen,
Berufsausbildung und Studium war für jüdische Jugendliche nach 1935 per Gesetz
und Praxis nicht mehr zugänglich.
Der
vorletzte jüdische Lehrer Salli Silbermann gab im 14.Oktober 1935 beim
damaligen Laupheimer Bürgermeister Marxer folgenden Vorfall zu Protokoll [18]:
„In
den letzten Tagen feierten wir im israelitischen Gemeindehaus das Laubhüttenfest.
Aus diesem Anlaß hatten wir im Garten eine Hütte errichtet. Als ich am Montag
dorthin kam, sah ich, daß die Hütte aufgebrochen war. Es fehlte eine Lampe,
ein Davidstern und ein Bild, das aus der Bibel mitgenommen wurde. Die ganze
Wanddekoration, welche aus Girlanden und Obst bestand, war heruntergerissen;
daneben lagen Steine in der Hütte, mit denen offenbar geworfen worden ist. Die
Kinder von der Israelitischen Gemeinde hatte ich noch einmal beisammen, um mit
denselben eine kleine Nachfeier zu halten.
Auf
einmal kamen Steine zu uns hereingeflogen und die Feier mußte abgebrochen
werden. Einige der jungen Burschen habe ich erkannt.“ Die Beschwerde des
mutigen Lehrers beim damaligen Stadtoberhaupt hatte keine Folgen für die Übeltäter.
Ein
exemplarisches Beispiel für die Schicksale der Schüler widerfuhr dem Mädchen
Ilse Sternschein. Sie schloß die nunmehr einklassige jüdische Schule im März
1937 mit einem hervorragenden Zeugnis ab; eine Lehre konnte sie aber nicht
beginnen, weil sie als Jüdin nicht in die Berufsschule durfte. So arbeitete sie
in einer Kleiderfabrik, bis auch diese den jüdischen Eigentümern durch
„Arisierung“ genommen wurde. Ihr Vater wurde nach der sogenannten
„Kristallnacht“ für zwei Monate, ohne Informationen für die Angehörigen,
ins KZ Dachau verschleppt. Erst danach, fast zu spät, getrennt von Eltern und
Geschwistern, gelang es der 16-jährigen 1939 in das heutige Israel zu
emigrieren. Die Eltern sah sie erst viele Jahre später, kurz vor dem Tod des
Vaters, in den USA wieder.
Wie
einfach sich das auch liest – so schwer muß es gewesen sein. Selbst ihr
Laupheimer Dialekt war auf ihrem schwierigen Weg hinderlich.„Wegen meinem
breiten Schwäbisch haben mich die Norddeutschen aus der zionistischen
Jugendgruppe kaum verstanden“, sagt
sie. Die letzten Jahre in Laupheim - die Familie war enteignet und aus ihrem
Haus vertrieben - haben sie tief verletzt.
Siegfried
Einsteins so belastetes Verhältnis zu Laupheim mündete in ein spätes Gedicht
:
In
meine Heimat nur im Tod...[19]
In
meine Heimat möchte ich nicht zurück,
Nicht
an den Ort, aus dem sie mich vertrieben.
Ich
fühl, solang ich leb, das harte Stück
Des
Steines, den sie johlend mir verschrieben
„Zur
Strafe für den Juden“, wie sie keuchten;
Vortrefflich
zielten sie auf meine Stirn
-
Und als ich wankte sah ich nur ein Leuchten:
Im
Gleitflug kam mein Traum von Tod und Hirn.
In
meine Heimat möchte ich nicht zurück,
Solang
dies kranke Herz noch pocht im Schlaf.
Doch
sucht ihr Männer Laupheims, sucht das Stück
Des
Steines der mich einst vorzüglich traf.
Und
einer werf symbolisch ihn mir zu,
eh
der Rabbiner mir drei Schaufeln Erde gibt.
Das
Stückchen Land, das meine Ahnen so geliebt,
Es
diene mir im Tod zur letzten Ruh.
Auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim wurde im April 1983 Siegfried Einsteins Wunsch entsprochen.
„.....Am
folgenden Morgen lag wie ein Leichentuch blitzender weisser und unangerührter
Schnee über dem Platz, wo die Synagoge über 100 Jahre gestanden hatte, wo die
Juden sich täglich zwei und drei Mal zum Gebet und Gespräch versammelt
hatten.....Nicht einmal nach der sogenannten „Kristallnacht“ hörte das auf.
Die Ältesten und die Jüngsten trafen sich im Rabbinatshaus gegenüber der
verschwundenen Synagoge. Jetzt am Morgen nach meiner Rückkehr versammelte sich
der Minjan.[20]
Wie üblich waren auch meine Schüler dabei.
Wir sprachen kein Wort über die vernichtete Synagoge, aber ich bin meiner gewiß,
daß wir alle im Gebet an sie dachten.“
Weiter
berichtete Heinz Säbel: „Erst später am Tag behandelten wir im Unterricht
das Schicksal der Synagoge und der Gemeinde. Die Kinder hatten ein tiefes Bedürfnis,
ihren erschütternden Erlebnissen Ausdruck zu geben, einen Zusammenhang zu
erzielen und wenn möglich eine Erklärung zu den Erinnerungsbildern
zu bekommen, die sich in ihren empfänglichen Sinnen festgesetzt hatten.
Später in der Pause wollte niemand auf die strahlende Decke auf dem Platz der
Synagoge treten!“
Anfang
1939 endet die Geschichte jüdischer Kinder und ihrer Schule in Laupheim. Der
junge Lehrer ermutigte Zögernde und Ängstliche, das lebensgefährliche Land zu
verlassen. Seine Schüler berichten noch heute, daß er dabei mit großer Überzeugungskraft
auf ihre Eltern einwirkte.
Eine ehemalige Schülerin besorgte für Heinz Säbel in Südschweden
einen Lehrauftrag an einer Internatsschule. Dorthin konnte der 26 - jährige am
28. Februar 1939 sein Leben retten. Die Umstände
grenzen an ein Wunder. Er war einer der letzten jüdischen Laupheimer,
die das Land verlassen konnten. Beth ha-Sefer, das „Haus des Buches“, die jüdische
Schule in Laupheim, gibt es seitdem nicht mehr.
Rolf Emmerich, 10.06.99
[1] Torah, 5. Buch Mose
[2] Erlaß des königl. Innenministeriums vom 9.2.1825
[3] Georg Schenk „Die Juden in Laupheim“ in „Laupheim“ Hrsg. Stadt Laupheim, Weißenhorn 1979, S.296
[4] Mischna Awot V zit. n. Günter Stemberger „Das klassische Judentum“, München 1979, S.112
[5] hebräisch: jüdische Gemeinde.
[6] Frau Jetle d.h. Judith Maier, geb. Seligmann aus Ichenhausen.
[7] Übersetzung durch Rabbiner Dr. Leopold Treitel
[8] Erlaß des Königl.Innenministeriums vom 9.2.1825
[9] J.G. Briegel „statistisch geschichtliche Beschreibung des Ortes Laupheim“, Nachdruck Laupheim 1983, S.57
[10] Erlaß des Königl. Ev. Konsistoriums vom 12.7.1825
[11] Talmud – Hochschule für begabte Knaben im Anschluß an die Bar Mitzwa.
[12] Rolf Emmerich „Abraham Waelder, Laupheimer Rabbiner in Zeiten des Wandels“, in BC- Heimatkundliche Blätter für de Kreis Biberach 2/1997
[13] Aron Tänzer „Geschichte der Juden in Württemberg“(Reprint), Frankfurt 1983
[14] Utz Jeggle „Judendörfer in Württemberg“, Tübinger Vereinigung für Volkskunde e.V., 1969
[15] Rolf Emmerich „Abraham Waelder, Laupheimer Rabbiner in Zeiten des Wandels“. In BC - Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach 2/1997
[16] CD „Lieder und liturg. Synagogengesänge von Moritz Henle“, Hrsg. Gesellschaft für Geschichte und Gedenken, Laupheim 1998
[17] Katholische Schulaufsicht über die Jüdische Schule 1825 - 1912
[18] Waltraut Kohl, Die Geschichte der Judengemeinde in Laupheim, Zulassungsarbeit für das Lehramt, Laupheim 1965, S.76
[19] Siegfried Einstein „Meine Liebe ist erblindet“, Mannheim 1984, S.65 (der abgedruckte Text entspricht in der Schreibweise dem Original)
[20] Minjan d.h. mindestens zehn erwachsene Männer zum öffentlichen Gottesdienst.