Philo
und die Synagoge - Dr. Leopold Treitel,
der
letzte Rabbiner von Laupheim
Von
Rolf Emmerich, Laupheim
Wenn ein Stück socialen und nicht uninteressanten Lebens im Scheiden ist, dann tritt die Geschichte in ihr Recht, die scheidende Welt zu schildern, daß sie im Gedächtnis der Nachwelt fortlebe.
So schreibt der spätere Laupheimer Rabbiner Dr. Leopold Treitel einmal im „Breslauer Jahrbuch“1. Vor 69 Jahren ist dieses gelehrte Haupt der Laupheimer Juden gestorben; vor 62 Jahren wurde die Synagoge, sein Gotteshaus, in der sogenannten Kristallnacht geschändet und zerstört. Die Menschen seiner Gemeinde wurden gedemütigt, aus der Heimat verjagt oder verschleppt und ermordet. Leopold Treitel hat in seinen 36 Laupheimer Jahren sie alle beraten, gesegnet und getröstet. Nun gilt es, so über ihn zu erzählen, daß etwas davon „im Gedächtnis der Nachwelt fortlebe.“
Elternhaus, Schule und Ausbildung
Leopold
Treitel wurde am 7. Januar 1845 als eines der sechs Kinder von Joseph und Johanna
Treitel in Breslau geboren. Der Großvater mütterlicherseits, Jakob Jehuda
Falk, war zu seiner Zeit der berühmte Raw
2 von Dyhernfurt in
Schlesien. Der galt bei seinen Zeitgenossen als große Leuchte talmudischer
Gelehrsamkeit. Nach diesem Vorfahren hieß der Enkel schließlich Leopold Jakob
Jehuda Treitel. Entsprechend der damaligen Tradition wurde der Junge bereits im
Vorschulalter an das hebräische Schrifttum, an die Gebetssprache der Juden,
herangeführt.
Der
Vater betrieb einen Handel mit Leder. Den jungen Leopold konnte er für diese Tätigkeit
nicht gewinnen. Der Kaufmannsberuf ging an den Bruder Salomon weiter. Wegen
Leopolds Neigung und Begabung empfahlen die Lehrer, den Jungen studieren zu
lassen. Dazu kam eigens der Direktor des
Elisabeth
Gymnasiums und bat die
Eltern, den befähigten Knaben bis zum Abitur in der Schule zu belassen, da er
sich wohl für einen Gelehrten, niemals zu einem Kaufmann eignen würde. So
wird dies später im Nachruf beschrieben.
Nach
dem Abitur begann der Achtzehnjährige mit dem Studium der Altphilologie,
Philosophie und Geschichte. Seine späteren Arbeiten belegen gute
Sprachkenntnisse der hebräischen, griechischen, lateinischen, englischen und
französischen Sprache. An der Breslauer Universität zählen große jüdische
Gelehrte jener Zeit zu seinen Lehrern. Darunter sein Doktorvater Heinrich
Graetz, dessen elfbändiges Standardwerk zur jüdischen Geschichte
3
noch heute nachgedruckt wird. Graetz war es wohl auch, der den jungen
Wissenschaftler bewog, sich in der Dissertation mit dem antiken griechisch-jüdischen
Philosophen Philo von Alexandrien zu befassen. Am Breslauer „Rabbinerseminar
Fraenkelscher Stiftung“, dem allerersten seiner Art in Deutschland,
studierte Treitel teilweise parallel zur Universität, überwiegend jedoch nach
seiner Promotion 1869. Eine jüdisch-theologische Fakultät war in Breslau, wie
anderorts auch, nicht durchsetzbar. Das Rabbinerseminar fungierte aber durch
parallel
laufende Studien praktisch als solche. Professoren wie Heinrich Graetz und
Rebekka Treitels Bruder Marcus Brann, die an der Universität und am
Rabbinerseminar tätig waren, vermitteln uns diesen Eindruck.
Der
Mitgründer und langjährige Direktor des Seminars, Dr. Zacharias Frankel
4,
muß den angehenden Rabbiner sehr beeindruckt haben. Zeitlebens hing ein großes
Bild des verehrten Lehrers über Treitels Schreibtisch. Da
es im Judentum eigentlich keine Konfessionen, jedoch sehr unterschiedliche
Denominationen oder religiöse Richtungen gibt, dürfte dies ein wichtiger
Hinweis auf Leopold Treitels Standort sein.
Dr.
Zacharias Frankel gilt bis heute - neben Professor Heinrich Graetz - als einer
der Begründer der „Wissenschaft des Judentums“. Die religiösen Schriften,
mit Ausnahme der Tora, und große Teile der Glaubenspraxis wurden in diesem
Umfeld historisch kritisch bewertet. In der zugehörigen „Monatsschrift für
Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ (MGWJ; von 1851 bis 1938) hat der
Laupheimer Rabbiner bis ins hohe Alter zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten und
Rezensionen veröffentlicht. Zacharias Frankel gilt noch heute als
the
ideological father of present-day Conservative Judaism
5. Er wird
demnach als der geistige Vater einer sehr moderaten Reform angesehen.
„Conservative
Judaism“ ist heute die größte Gruppierung im Judentum der USA. Es zeigt sich
darin eine nicht-orthodoxe Ausprägung des mosaischen Glaubens in der Nachfolge
des Reformers Moses Mendelssohn.
Offensichtlich
ließ sich auch Leopold Treitel von solchen Leitideen beeindrucken. Seine
Schriften und Handlungsweisen zeigen dies.
Im Januar 1876 schloß er das
Rabbinerseminar mit der Hattarah, dem Rabbinerdiplom, ab. Nach verschiedenen
Stellen als Religionslehrer wird Leopold Treitel 1878 Rabbiner in Koschmin
in der Provinz Posen, 1881 in Briesen/Westpreußen. Von 1884 bis 1894 ist er
schließlich zweiter Stadtrabbiner in der badischen Hauptstadt Karlsruhe.
Philo und der Rabbiner
Seit
der Studienzeit an der Universität Breslau beschäftigte sich Treitel mit dem
Werk des Philo von Alexandrien. Dieser lebte vom Jahre 25 vor bis zum Jahre 40
nach christlicher Zeitrechnung. Der israelische Historiker Menahem Stern
schreibt über die Bedeutung von Philos Werk: Seine Logos-Lehre, die Verbindung von Philosophie mit seiner ausgeprägten
religiösethischen Grundhaltung und sein Versuch, das griechische Denken mit der
Offenbarungsreligion in Einklang zu bringen, sichern ihm einen Platz unter den führenden
Autoren der Religionsgeschichte. Er ist in der Tat einer der großen Wegbereiter
der gesamten späteren Theologie 6. Mit diesem Großen der
Religionsgeschichte hat sich der Laupheimer Rabbiner mehr als 50 Jahre
wissenschaftlich beschäftigt; in späteren Jahren auch zunehmend kritischer
auseinandergesetzt.
Nach
der Dissertation über Philos Sprache im Jahre 1869 veröffentlichte Treitel
zahlreiche Artikel und zwei Bücher über den antiken Philosophen. Das alte jüdische
Ideal lebenslangen Lernens wird hier exemplarisch sichtbar. Das abschließende
Buch über
Die gesamte Theologie und
Philosophie Philos von Alexandria 7 veröffentlichte der alte
Rabbiner im Jahr seiner Pensionierung mit 78 Jahren. Beim Berliner Verlag C.A.
Schwetschke war er damit gleichzeitig mit Leo Baeck und Ismar Elbogen im
Programm.
Es
würde an dieser Stelle natürlich zu weit führen, Leopold Treitels
Philo-Rezeption nachzuzeichnen. Schließlich handelt es sich um das Lebenwerk
des rabbinisch, philosophisch und philologisch hochgebildeten Autors und war
offenbar nur für einen engen Kreis einschlägig Interessierter geschrieben. Während
die Dissertation nach damaliger Vorschrift noch lateinisch verfaßt ist, wurden
die späteren Arbeiten in deutscher Sprache geschrieben. Sie sind jedoch
reichlich mit griechischen, lateinischen, hebräischen und englischen Zitaten
versehen. Frühere und zeitgenössische Autoren werden durchweg in ihrer eigenen
Sprache zitiert. Oft finden sich bis zu vier Sprachen auf einer Buchseite. Der
Kontrast zwischen dieser Welt und der ländlichen Kleinstadt Laupheim konnte
schwerlich stärker sein. Schließlich war ja auch Treitels Arbeit in Synagoge,
Schule und für die Familien weitab von seiner Wissenschaft.
Eine
kleine Sequenz über die Bedeutung des Sabbat, aus Treitels zweitem Philo-Buch,
mag einen Einblick in die angewandte Arbeitsweise geben. Philos Auffassung
wird dabei im Kontrast zu derjenigen des Maimonides (Moses Ben-Maimon, auch
RAMBAM genannt) aus dem 12. Jahrhundert betrachtet: Da ist es denn Philo gewesen, der als glücklicher Fortsetzer der
Theologie der Propheten, klar und bestimmt zum ersten Male die Idee von der
sozialen
Institution des Sabbats aufgestellt hat, mit Abstreifung alles Nationalen, ihr
weltumfassend Bedeutung gebend, indem er die Segnungen des Ruhetages des Herrn
nicht mehr bloß das einzelne Land, das einzelne Volk, vielmehr die Heidenwelt
so gut wie das Volk der Offenbarung teilhaben läßt
8.
Unser
Rabbiner erläutert dazu: In der Darlegung
der sozialen Ordnung der mosaischen Gesetzgebung ist Philo besonders ausführlich.
Es kommt ihm darauf an, den universalistischen Zug der mosaischen Gesetzgebung
an derselben darzutun.
Dem
stellt Treitel die talmudische Auslegung des Sabbat gegenüber als
eine
theokratische Einrichtung; er ist dort gleichsam Tatausdruck für das Verhältnis
von Mensch zu Gott, ist nach den besonderen Beziehungen Israels das Band
zwischen Gott und Israel. Da ist es schon Selbstzweck,
sich des Rechts der Bearbeitung der Dinge dieser Welt für die Sabbatzeit zu
begeben. Gleichsam als Beleg für diese Sicht zitiert Treitel den großen
Maimonides:
Nichts Eindringlicheres,
Wirksameres als den Sabbat für die Einprägung der Religionswahrheiten gibt es
als Tatausdruck; ohne solchen schwebt die religiöse Idee gleichsam in der Luft.
Auch
wenn es bei diesem kurzen Text so scheinen sollte: Der Laupheimer Rabbiner
argumentiert hier und an anderen Stellen seiner wissenschaftlichen Abhandlung
nicht mit Philo gegen Maimonides oder umgekehrt. Vielmehr bewegt er sich hier in
einer undogmatischen jüdischen Tradition; zwei Anschauungen werden ohne Wertung
nebeneinander dargestellt. Im Talmud z. B. finden wir dazu viele Schriftstellen.
Leopold
Treitel ist es, dank seiner philosophischen und rabbinischen Gelehrsamkeit möglich
geworden, die Bedeutung des großen Alexandriners für das Judentum zu klären.
Auffallend ist, daß unser Autor wohl der erste jüdische Gelehrte in
Deutschland war, der sich so vertieft über Jahrzehnte dem griechisch-jüdischen
Philosophen widmete. Die Anstöße seiner akademischen Lehrer Frankel und Graetz
standen wohl am Anfang. Es ist anzunehmen, daß sich Treitel an Philos Betonung
der sozialen Ordnung des jüdischen Lebens begeisterte. Wichtig scheint dabei
aber auch die universale Deutung der mosaischen Texte, also auch für Menschen
anderen Glaubens, zu sein.
Die Laupheimer Synagoge, 1936 als Aquarell gemalt von Hermann Stumpp. Mit ihren Türmen für zwei Glocken und einer Orgel im Inneren glich sie beinahe einer Kirche. Zerstört in der „Pogromnacht“ 1938
Rabbiner in Laupheim
Als Dr. Leopold Treitel im März 1895 in das Rabbinat am Laupheimer Judenberg einzog, war nicht zu erkennen, daß er der letzte Rabbiner dieser Stadt sein würde. Mehr als 28 Jahre übte er dann sein Amt aus; mit der großen Gewissenhaftigkeit und dem starken Einsatz, der ihm eigen war. Acht Jahre lebte er dann noch, geehrt und geachtet, in mitten seiner Gemeinde im Ruhestand. Es war dies die längste Zeit eines Rabbiners in Laupheim.
Vorher
war Treitel über zehn Jahre zweiter Stadtrabbiner und Religionslehrer in
Karlsruhe gewesen. Gemeinsam mit seiner Frau Rebekka betreute er dort ein
Internat für auswärtige jüdische Schüler und hielt öffentliche Vorträge.
Ein Ergebnis beider Bemühungen mag sein, daß er in jener Zeit zwei Jugendbücher
schrieb; jeweils zu biblischen Überlieferungen. Eines davon, Rahab, die Seherin von Jericho
9, schildert dramatische
Tage im Leben einer jungen Frau, die beim Einzug des jüdischen Volkes in das
Gelobte Land ein Schlüsselrolle übernimmt. Der eigene Entschluß und die
Entscheidung nach dem eigenen Gewissen steht im Mittelpunkt der Erzählung.
Der Autor zeigt offenkundige Sympathie für die geschichtliche Leistung dieser
Frau, ja von Frauen überhaupt. Ob er damit helfen wollte, eine Lücke im überlieferten
Geschichtsbild zu schließen? Denkbar wäre es. Zu der Geradlinigkeit und dem
historisch-kritischen Geschichtsbild des Rabbiners würde das passen. Jedenfalls
war diese Darstellung in seiner Zeit recht ungewöhnlich.
Die
Laupheimer Judengemeinde hatte 1895 nur noch 381 Mitglieder, davon immerhin 65
Schüler. Verglichen mit den 732 Seelen dieser vormals größten Judengemeinde Württembergs
ein Riesenverlust in wenigen Jahren. Auswanderung nach Amerika, aber auch
Abwanderung in die Städte Ulm, Stuttgart und München wirkten sich seit 1869
entsprechend aus. Der Laupheimer Chronist August Schenzinger schrieb unter
diesem Eindruck, daß in wenigen Jahrzehnten mit dem gänzlichen Abgang der
Judengemeinde gerechnet werden müßte. 10 Dennoch traf der neue
Rabbiner eine lebhafte Gemeinde an. Der Kantor Emil Dworzan war in der gesamten
Amtszeit des Rabbiners als Vorsänger im Gottesdienst, als Religionslehrer der
unteren Klassen und als Chordirigent tätig. Bis 1907 leistete sich die Gemeinde
auch den christlichen, hauptamtlichen Organisten Reinhold Spaether; der langjährige
Gemeindevorsteher Simon L. Steiner übernahm danach den Dienst an der
Synagogen-Orgel. Ein Glücksfall besonderer Qualität beschert uns heute noch
Originaltöne aus Leopold Treitels Laupheimer Zeit
11. Die
Baritonstimme des Kantors Emil Dworzan, von Simon L. Steiner an der Orgel
begleitet, wurde 1920 mit 35 Gesängen auf Tonträgern konserviert.
Rabbiner
Treitel predigte an jedem Sabbat in der Synagoge. Er führte den Talmud-Thoraverein,
in dem man sich zu religiösen Vorträgen traf, und er gab Religionsunterricht
für jüdische Schüler der Latein- und Realschule. Der Religionsunterricht
Dr. Treitels galt wie seine Predigt als hoch anspruchsvoll. Beides war sehr anstrengend, berichtet einer seiner damaligen Schüler.
Die Vorbereitung der Jungen auf Bar-Mitzwah und der Mädchen auf Bat-Mitzwah, in
Laupheim „Konfirmation“ genannt, war eines der großen Anliegen des
Rabbiners. Mehrere Generationen junger Laupheimer sind von ihm unterrichtet und
in den Glauben ihrer Vorfahren eingeführt worden.
Er
besuchte die Familien bei freudigen und traurigen Anlässen; er sammelte Spenden
für die Armen. Ging er durch Laupheims Gassen, hatte er in den unergründlichen
Taschen seines langen schwarzen Gewandes immer ein paar Zuckerle (Bonbons) für
die Kinder. „Ob das Juden- oder Christenkinder waren, das spielte bei unserem
Rabbiner dann keine Rolle“, schrieb mir der Chronist der einstigen
Judengemeinde, John Bergmann aus USA. Nach oberschwäbischem Brauch hatte der jüdische
Gesangverein Frohsinn auch eine Theatergruppe. Im Winter, und besonders an Purim,
wurden lustige Theaterstücke und Sketche aufgeführt. Rabbiner Treitel war
dabei
oftmals das Ziel witziger Szenen. „Der konnte herzhaft mitlachen“, berichtet
ein damaliger Mitspieler, wenn seine Gesten und die gelehrte Redeweise
nachgespielt wurden.
Es
mag heute erstaunen, doch die Rolle des Rabbiners scheint zur Amtszeit Treitels
weitgehend derjenigen von Pfarrern der christlichen Kirchen entsprochen zu
haben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nur, daß es vor allem im
Gottesdienst eine besondere Rollenteilung zwischen Rabbiner und Vorsänger gab,
die darauf hinweist, daß im Judentum keine Priesterschaft im üblichen Sinne
existiert. Wie gut das Verhältnis von der jüdischen Gemeinde zur
katholischen Mehrheit Laupheims war, zeigt z. B. die Tatsache, daß der Vorsänger-Kantor
neben dem gemischten Synagogenchor und dem jüdischen Männer-Gesangverein
Frohsinn über zehn Jahre auch den katholischen Gesangverein „Konkordia“
dirigierte. Der Rabbiner Dr. Treitel lebte damit sicher im besten Einverständnis.
Zeitzeugen berichten, daß Treitel neben dienstlichem auch privaten Kontakt zum
katholischen Stadtpfarrer hatte. Die dienstliche Begegnung ergab sich z. B.
durch das „katholische Schulinspektorat“, in dem der katholische Geistliche
die Schulaufsicht über die „Israelitische Volksschule“ ausübte. Privat
wurden Pfarrer und Rabbiner mehrfach beim gemeinsamen Schachspiel gesehen.
Die Familie des Rabbiners
Am
31. Mai 1882 heiratete Leopold Treitel die 1856 geborene Rebekka Brann. Die
junge Frau stammte aus der Familie des Rabbiners Salomon Brann in Schneidemühl.
Für ihre Zeit war sie eine ungewöhnlich gebildete Frau. Sie hatte nach ihrer
Lehrerausbildung bis zur Heirat an der höheren Mädchen-Schule in Schneidemühl
Fremdsprachen unterrichtet. Die Gemeindearbeit und die umfangreichen
wissenschaftlichen Arbeiten Treitels sind ohne Frau Rebekka schwerlich
vorstellbar. Unabhängig von ihrem Mann war sie zudem als Schriftstellerin und
Übersetzerin tätig. Eine Erzählung über die erste Ansiedlung Laupheimer
Juden, Buchübersetzungen aus dem Englischen
12 und Gedichte sind von
ihr überliefert.
Während
der Karlsruher Jahre betreute das Ehepaar Treitel das Internat für jüdische
Schüler. Besonders Frau Treitel scheint diese Aufgabe zuzufallen. So wird sie
auch später in Laupheim einen Sonntagsunterricht für die Mädchen der Gemeinde
betreiben. Goethe, Schiller und andere Klassiker hat sie mit uns gelesen; natürlich
auch die Bibel, so sagte mir eine der damaligen Sonntagsschülerinnen.
Rebekka
Treitel setzte damit eine Tradition ihrer elterlichen Familie fort, von der sie
selber profitiert hatte: Ihr Vater, Rabbiner Salomon Brann, führte jüdische
Ausbildung für Mädchen ein und lehrte bis kurz vor seinem Tode. Die Tochter
erhielt auch vom Vater die Einsegnung zur Bat-Mitzwah oder Konfirmation, wie
ihr Enkel Henry berichtet. Ältere Laupheimer erzählen, Rebekka Treitel habe
etlichen Schülern der Stadt kostenlos Nachhilfeunterricht in Englisch und
Latein erteilt; die Konfession habe dabei keine Rolle gespielt. „Sonst hätte
sich meine Familie das nicht leisten können“, sagt einer der damaligen Schüler.
Leopold und Rebekka Treitel 1921 mit ihren Söhnen (v.l.)Emil, Otto und Erich
Der
jüngste Sohn Erich Josef, 1897 in Laupheim geboren, wurde Elektro-Ingenieur.
Erich Treitel erkannte die braune Gefahr rechtzeitig. Mit seiner Frau Rosa und
Sohn Sven wanderte er bereits 1934 nach Spanien und später nach Argentinien
aus. Als seine Mutter Rebekka 1936 starb, versuchte er mehrmals, ein
Einreisevisum zur Beerdigung in Laupheim zu bekommen. Als Jude bekam er dazu von
den Nazi-Behörden keine Chance.
Der
Ulmer Bezirksrabbiner Dr. Cohn beschrieb 1931 die Atmosphäre im Hause Treitel:
Fast
regelmäßig war ich bei ihnen am Freitagabend zu Gaste, und die Stunden, die
ich in Gesellschaft dieser beiden prächtigen, so überaus gütigen alten
Leute verleben durfte, waren wirkliche Sabbat-Stunden für mich und werden mir
in unvergeßlicher Erinnerung bleiben. Erhebend und rührend zugleich war es,
wenn der hochbetagte, greise Rabbiner mit immer noch wohltönender Stimme die
vertrauten Freitag-Abendgesänge und den Kiddusch
13 anstimmte. Da
erschien meinem Geist die Zeit, da noch die Söhne bei den Eltern weilten und
wie Ölbaumpflanzen den Tisch umrankten. Der
Tod Leopold Treitels kommt direkt nach einem solchen Freitagabend. Zusammen mit
der angereisten Schwiegertochter Rosa begeht er noch froh und zufrieden den
Kiddusch zum Sabbatanfang. In der Nacht hat er einen schweren Schlaganfall, aus
dem er nicht mehr voll zu Bewußtsein kommt. Den nächsten Sabbat erlebt der
Rabbiner nicht mehr. Die aus Mannheim, Berlin und Freiburg herbeigeeilten Söhne
beten ihm am 4. März 1931 morgens gegen vier Uhr den Kaddisch, das jüdische
Sterbegebet. Der
Stuttgarter Stadtrabbiner Dr. Rieger beschreibt in einer langen Würdigung Dr.
Treitels auch die Trauerfeier in der Laupheimer Synagoge. Da heißt es:
Ein
feierlicher Ernst waltete in dem ehrwürdigen Gotteshause, in dem vor dem Altar
die sterblichen Überreste des letzten Laupheimer Rabbiners aufgebahrt waren.
Ein frostiger Wintermorgen lugte durch die wundervollen Fenster des
Gotteshauses,
die Friedrich Adlers Meisterhand geschaffen hat. Draußen, soweit das Auge
reicht, das weiße Bahrtuch des Schnees. Drinnen im Hause die tieftrauernde
Gemeinde. Drei
Rabbiner und die christlichen Stadtpfarrer begleiten die Trauergemeinde zum
nahen jüdischen Friedhof. Dort singt der Laupheimer Synagogenchor Louis
Lewandowskis Vertonung des 91. Psalms:
Der
da sitzt im Schutz des Höchsten. Ja, für den Rabbiner Leopold Treitel
mag das ein zentrales Motto gewesen sein. Wer
heute das Grab des letzten Rabbiners auf dem gut gepflegten Laupheimer Judenfriedhof
sucht, der findet nicht das gewohnte Einzelgrab. Noch über den Tod hinaus haben
Leopold und Rebekka Treitel ein unorthodoxes Zeichen gesetzt. Sie entschieden
sich, schon zu Lebzeiten, für ein gemeinsames Doppelgrab. Anmerkungen:
1.
Jahrbuch zur Belehrung
und Unterhaltung, Breslau 1891
2.
Alte hebräische
Bezeichnung für den Rabbiner.
3.
Heinrich Graetz,
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten, 11 Bde., 6744 S.; Nachdruck 1996
4.
Hans Küng, Das
Judentum, München 1991, S. 522
5.
Michael A. Meyer,
Response to modernity, New York/Oxford 1988, S. 84ff
6.
Menahem Stern, Die Zeit
des zweiten Tempels in „Geschichte des jüdischen Volkes“, 3. Auflage, München
1994, S. 363
7.
Leopold Treitel, Die
gesamte Theologie und Philosophie Philos von Alexandria, Berlin 1923
8.
Leopold Treitel a.a.O.
S. 72 ff
9.
Leopold Treitel, Rahab
die Seherin von Jericho, Leipzig o.J.
10.
August Schenzinger,
Beschreibung und Geschichte Laupheims samt Umgebung, Nachdruck Laupheim 1987, S.
255
11.
Rolf Emmerich,
Synagogale Musik aus der Laupheimer Judengemeinde, in BC - Heimatkundliche Blätter
für den Kreis Biberach Nr. 1/1992, S. 44ff
12.
Elma Ehrlich Levinger,
Erzählungen zu den jüdischen Festen, Übers.v. R. Treitel-Brann, Leipzig 1922
13.
Segen zum Sabbat über
Brot und Wein
Noch in Karlsruhe wurden die
beiden ältesten Söhne Otto Jehoschua und Emil Ephraim geboren. Otto der
Botanik-Professor und Emil der Arzt werden später, trotz Tapferkeitsorden aus
dem Ersten Weltkrieg, nach der sogenannten Kristallnacht ins Konzentrationslager
verschleppt. Nach dieser brutalen Demütigung mußten sie mit ihren Familien aus
Deutschland flüchten.