Musica sacra in Synagoge und Kirche -
150 Jahre Moritz Henle
Von Rolf Emmerich, Laupheim
Vom 18.bis 21. Mai 2000 stand Laupheim im Zeichen von MUSICA SACRA IN SYNAGOGE UND KIRCHE. Vergleiche der liturgisch musikalischen Entwicklung in Judentum und Christentum wurden in Vortrag und Gesang dargeboten. Den Anlaß dazu bot der 150. Geburtstag des gebürtigen Laupheimer Kantors und Komponisten Moritz
Henle. Wie kam es dazu?
Moritz uns Caroline Henle geb. Herschel, aufgenommen 1882. |
Moritz Henle war in Laupheim vergessen. Es war ein Zufallsfund, der mich zu ihm führte. Im Sommer 1984 suchte ich im Hamburger Staatsarchiv nach Spuren des Rabbiners Max Sänger. Bei dieser Gelegenheit hatte ich unvermittelt ein Buch mit einem musikgeschichtlichen Aufsatz Moritz Henles in der Hand und las mich fest. Dann fand ich Einträge über den Komponisten in etlichen zeitgenössischen Arbeiten zur Musik der Synagoge wie z.B. in dem Buch Lebensbilder berühmter Kantoren des Berliner Oberkantors Aron
Friedmann (1921) und in Abraham Zwi Idelsons Buch Jewish Music in its Historical Development (1929); selbst noch in der neuesten Encyclopedia Judaica wird Henles Person und Werk gewürdigt.
Die Partituren der Kompositionen fand ich sehr weit verstreut an neun verschiedenen Fundorten in USA, Europa und Israel. In nahezu 16 Jahren wurden so 52 gedruckte Werke und einige Manuskripte wiederentdeckt; das ist bereits für sich betrachtet eine spannende Geschichte voller Zufälle und von hilfreichen Menschen. Ein ganz aktuelles Beispiel dazu erreichte mich kürzlich. Da kamen 31 Jahre Briefwechsel Moritz Henles mit einem Freund und Fachkollegen durch einen amerikanischen Wissenschaftler zutage. Bereits auf den ersten Blick zeigte sich darin wieder eine neue faszinierende Seite des Kantors.
Moritz Henle wurde am 7. August 1850 als drittes von elf Kindern in Laupheim geboren. Bei seiner Beschneidung bekam er den
Vornamen Moses; woraus später Moritz wurde.
Die Mutter Klara geb. Adler aus Laupheim war bis zu ihrer Heirat 1847 einige Jahre
Haushälterin bei der Familie des Schlossbesitzers Victor Steiner; also bei einer 12-köpfigen
Kinderschar (darunter der später geadelte Kilian von Steiner).
Der Vater Elkan Henle, ein aus Ichenhausen zugewanderte Glasermeister, hat im Jahr seiner Hochzeit 1847 im Schloss Großlaupheim den neuen Kirchenraum der Laupheimer Protestanten ausgestaltet. Seine zugehörige
Handwerkerrechnung vom Juni 1847 belegt dies. Eine reizvolle Geschichte nebenbei: In dem Schloss einer jüdischen Familie richten jüdische und christliche Handwerker gemeinsam einen christlichen Kirchenraum ein! Im Laupheim jener Jahre war dies also möglich.
Der junge Moritz Henle tat sich schon früh mit seinem musikalischen Talent hervor. Er sang im Knabenchor der Laupheimer Synagoge; Geige und Klavier begeisterten ihn. Die Eltern förderten das entsprechend. Damit schien der Weg des Berufsmusikers vorgezeichnet. Mit Hilfe von Simon Heinrich Steiner, dem Mitgründer der
Hopfenhandlung Steiner, kam der Zwölfjährige ans Konservatorium für Musik in Stuttgart. Dort studierte er Klavier, Geige und Gesang. Doch diese Karriere wurde jäh gebremst. Die ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse der kinderreichen Familie Henle zwangen ihn nach zwei Jahren, eine sicherere Laufbahn einzuschlagen.
So wechselte er an das evangelische Lehrerseminar in Esslingen. Neben der Ausbildung für die allgemeinen
Schulfächer wurden die jüdischen Seminaristen Württembergs dort von dem Pädagogen
Leopold Liebmann auch für den Religionsunterricht ausgebildet. Entsprechend einer Anordnung der Königlich-Israelitischen
Oberkirchenbehörde mußten zu Henles Zeit die jüdischen Junglehrer auch als Vorsänger qualifiziert und geprüft werden. Die Zeit am Konservatorium sollte sich also gelohnt haben. Sein späterer Nachfolger in Hamburg, Leon Kornitzer beschreibt diese Entwicklung als Gewinn: “Er lenkte in eine Laufbahn ein, welche die Musik wenigstens als Nebenweg mit sich führte - er wurde Lehrer”. Und als sich nach dem Stimmbruch eine schöne Baritonstimme einstellte, da ergab sich die jüdische Synthese aus Lehrer und Musiker: der Kantor. Der Vorsänger, hebräisch Chasan, später auch Kantor genannt, hat bekanntlich die tragende Rolle im Synagogen-Gottesdienst. Moritz Henle hatte Beruf und Berufung gefunden.
Lehrer und Kantor
Bereits im November 1868 trat der junge Laupheimer als Lehrer und Kantor in den Dienst seiner Heimatgemeinde. Der Berliner Autor Aron Friedmann schrieb 1921 über Henles Laupheimer Zeit: Neben dem
Unterricht in der jüdischen Volksschule erteilte er auch Musikstunden, versah den Gottesdienst an Sabbaten und Festtagen, leitete den jüdischen Gesangverein “Frohsinn”, gründete einen gemischten Chor für die Synagoge und beteiligte sich an öffentlichen Konzertaufführungen.
Der junge Amtsträger wurde so bereits als 18jähriger mit zwei wichtigen Funktionen seiner
Heimatgemeinde betraut. Und er kam mit zwei prägenden Persönlichkeiten dieser Kehilla in engen Kontakt: Mit Alexander Elsässer und Abraham Waelder.
In der jüdischen Volksschule Laupheim war Moritz Henle dem Oberlehrer Alexander Elsässer unterstellt. Dessen besonderes Format sei hier durch seine langjährige Delegation, als einziges jüdisches Mitglied, in der königlichen Lehrplankommision angedeutet. Überdies war er als Lyriker landesweit bekannt.
Ein Beispiel zu Rabbiner Abraham Waelder soll dessen Vorbildcharakter belegen: Am Grab des katholischen Ortspfarrers Serafim Betzler hielt er eine Grabrede. Der Rabbiner sprach über diesen Pfarrer als Freund und Bruder; er bekennt sich auch zu dessen Toleranz gegen Anders-Denkende und anders Glaubende. Bei der Einweihung der neuen Synagoge in der Filialgemeinde Ulm 1873 wiederholte er für sich die gleichen Grundsätze, die er zuvor an dem Freund und Pfarrer würdigte.
Die junge Kantor Henle erlebte damals bewegte Zeiten in Laupheim:
- Die jüdische Gemeinde erstellte 1868 das neue Schulhaus in der Radstraße; über 60 Kinder je Lehrer wurden da unterrichtet.
- Die alten Schulräume im Rabbinatshaus wurden für die Gründung der Laupheimer Lateinschule zur Verfügung gestellt.
- 1869 wurde Laupheim zur Stadt erhoben.
- 1870/71 war Krieg zwischen Deutschland und Frankreich; auch Laupheim war davon stark betroffen.
- Wegen der schlechten Berufsaussichten wanderten nach jenem Krieg wieder viele junge Leute nach Amerika aus. Moritz Henles 17-jähriger Bruder Heinrich war dabei. Ohne Notlage ist dies nicht vorstellbar.
In diesen Zeitläufen bot die Musik Halt und Zusammenhalt für die Laupheimer. Moritz Henle wurde in der Stadt als großes musikalisches Talent gesehen. Mit gerade 21 Jahren komponierte er im Auftrag der Stadt, zum Kriegsende 1871, die Friedenshymne für die drei Laupheimer Männerchöre. Der Text stammte von Victor Heinrich Steiner; leider ist die Partitur dazu bis heute nicht gefunden.
Im Sommer 1873 wechselt der 23-Jährige als Kantor an die neu erbaute Synagoge in der damaligen Laupheimer Filialgemeinde Ulm. Da dort keine jüdische Volksschule existierte, konnte er sich nun auf die Chasanut beim Gottesdienst, auf Chorleitung, Religions- und Musikunterricht konzentrieren. Und er hatte gleichzeitig Gelegenheit nebenher wieder am Stuttgarter Konservatorium zu studieren; diesmal Gesang und Komposition. Im Jahre 1876 legte er dann die zweite staatliche
Lehramtsprüfung und 1877 die zweite Vorsänger-Prüfung ab.
Als Oberkantor und Komponist in Hamburg
Zwischenzeitlich wurde der Hamburger Rabbiner Max Sänger auf das junge Talent aufmerksam. Anfang 1879 wurde der junge Kantor zum Probevortrag an den
Israelitischen Tempel in Hamburg und an die neue Synagoge in Königsberg in Ostpreussen geladen. In Königsberg überließ er dem Assistenten Salomon Sulzers, seinem späteren Freund Eduard Birnbaum, die Stelle. An der Hamburger Reformsynagoge, dem Tempel aber war nun Henles neuer Wirkungskreis.
Wie in Laupheim und Ulm begründete er auch in Hamburg einen gemischten Chor. In diesem Rahmen lernte er seine spätere Frau Caroline Franziska kennen. Die Tochter Albertine beschrieb in ihren Erinnerungen dieses Stück Familiengeschichte so: “Unter den Chormitgliedern war die junge, hübsche Caroline Franziska Herschel aus guter jüdischer Hamburger Familie. Sie hat aus vollem Herzen gesungen, und der junge Moritz Henle hat dirigiert. Gegenseitig haben sich die beiden jungen Leute angeguckt. Aus dieser Sympathie wurde eine Ehe”. Im Jahre 1882 heiratete das junge Paar. Die Familie der Braut hat übrigens familiäre Verbindung zu dem großen jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn. Bei seinen öffentlichen Funktionen, ebenso wie bei seinen Kompositionen, begleitete von nun an Caroline Henle ihren Mann. Sie pflegte in ihrem Haus die Tradition des literarischen Salons, schrieb zahlreiche Konzertkritiken und Zeitungsartikel zu jüdischen Belangen. Aus der Familie gingen drei Kinder hervor: Alwin, Paul Wiliam und Albertine.
Schon während seiner zehn Jahre in Laupheim und Ulm machte der junge Kantor durch Kompositionen von Chorliteratur auf sich aufmerksam. Am Hamburger Tempel bekam er die seinem Talent angemessene
Herausforderung. Auffallend ist, dass Henle neben Soli vor allem für gemischte Chöre mit Orgelbegleit-ung komponierte. Als Kantor wirkte er schließlich immer in Gemeinden zu deren Liturgie die Benutzung der Orgel gehörte. Dazu gründete er gemischte Chöre. Beides galt damals als ausgesprochen revolutionär. Der gemeinsame Chorgesang von Frauen und Männern ist noch heute in den meisten Synagogen unvorstellbar; für die Orgelmusik gilt das gleiche.
Die schöpferischen 34 Jahre, die er als Oberkantor am Hamburger Israelitischen Tempel wirkte, zeigen Henles Kreativität und
Produktivität auf sehr verschiedenen Gebieten. Neben den Kompositionen gab er ein Gesangbuch heraus, entwickelte das
Chorwesen der Hamburger Reform-Gemeinde, gestaltet als Vorsänger den Gottesdienst, betätigte sich als Musikschriftsteller, bildete Sänger und Kantoren aus und war schließlich über 15 Jahre Vorsitzender des deutschen Kantorenverbandes. Moritz Henle starb am 24. August 1925.
Über das kompositorische Werk Moritz Henles schreibt Professor Hanoch Avenary in der Enzyclopedia Judaica: He reintroduced biblical cantilation and ashkenazi pronunciation.... Er führte also die biblisch überlieferte Singweise und aschkenasische Aussprache des Hebräischen wieder ein. Bis dahin pflegten die Kantoren am Hamburger Tempel das sephardische Rezitativ und die portugiesische Ausprache des Hebräischen. Die Tempel - Gemeinde hatte seit ihrer Gründung diese eigentümliche Liturgie tradiert.
Die Spannung zwischen dieser Tradition und dem Reformstreben der Gemeinde wurde sehr groß. Sicher ist, dass Moritz Henle eine grundsätzliche Neuerung herbeiführte. “Für diese
Reform komponierte der Kantor selbst eine Reihe von Gesängen, wozu er, wie in seinem Rezitativ, einiges aus seiner süddeutschen Heimat verwandte....” , schrieb 1937 sein
Nachfolger Leon Kornitzer. Was darunter zu verstehen ist, hat Andor Izsak in einer dreibändigen Edition süddeutscher Synagogengesänge vorgelegt. Es überrascht aber auch nicht, daß Moritz Henles
Synagogengesänge, ebenso wie die Kirchenlieder anderer Komponisten seiner Zeit von romantischen
Vorbildern wie Mendelssohn-Bartholdy beeinflußt sind; oft merken wir erst an der hebräischen Sprache, dass synagogaler Gesang zu hören ist.
Moritz Henles Reformeifer hatte offensichtlich Erfolg. Wie der Frankfurter Rabbiner Dr. Caesar Seligmann aus eigener Beobachtung schrieb, gelang es dem Kantor, “...auch den Chor des Tempels und dessen gesamte musikalische Liturgie auf eine unerreichte Höhe zu bringen”. Ihm verdankte der Tempel seinen Aufschwung. Er gab einen ungewöhnlich erfolgreichen Musik- und Gesangsunterricht. Durch seine Beliebtheit brachte er einen großen gemischten Chor zusammen. Worauf führte der Rabbiner dieses zurück? 50 Jahre nach der gemeinsamen Zeit schrieb er: “Moritz Henle war eine grundehrliche, lautere und offene Natur; er war von Veranlagung und Charakter ein echter unverfälschter Schwabe”. Aus Briefen der Familie läßt sich schließen, dass Moritz Henle ausgesprochen optimistisch war und durch nichts aus der Ruhe gebracht werden konnte.
Die Lied-Kompositionen unseres Kantors fanden seinerzeit eine beachtliche
Verbreitung v.a. in Deutschland ; aber auch bis in die USA. Moritz Henle stand einerseits noch in der alten Tradition des Vorsängers oder Chasans, der den Synagogen-Gottesdienst leitet. Andererseits wuchs er in die bedeutende Reihe komponierender Kantoren hinein. Salomon Sulzer in Wien war sein großes Vorbild.
Tonaufnahmen der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin von 1929, die jetzt wieder erhältlich sind, stellen Moritz Henles
Kompositionen neben denen der berühmtesten Kollegen vor. Anerkennung für sein Werk -zeigt sich auch in den
Auftragskompositionen, wie Lecho dodi zu Erew-Schabbat, zum Freitagabend, für die Wiesbadener Synagoge.
Wieder in Laupheim
In Laupheim ließen sich Ludwig Schwedes und sein Laupheimer Singkreis für die Gesänge Moritz Henles begeistern. Am 21. November 1990 fand in der katholischen Stadtpfarrkirche St.Peter und Paul die erste Aufführung der Liturgischen
Synagogengesänge statt; ein ermutigender Anfang.
Vor zwei Jahren wurde schließlich vom Laupheimer Singkreis und der Gesellschaft für Geschichte und Gedenken eine CD aus Henles Werk produziert. Konzerte fanden bei etlichen Anlässen statt; in Laupheim, Ulm, Freudental, Ichenhausen und in Terezin (KZ Theresienstadt). Der Laupheimer Singkreis durfte als erster deutscher Chor an diesem Ort singen. Was wir damals noch nicht wußten, und was dann im Nachhinein besonders betroffen machte, Moritz Henles synagogale Gesänge erklangen hiermit an dem Ort, den seine Frau Caroline 1942 unter mörderischen Bedingungen erleben mußte und nicht überleben konnte.
Albert, Pauline und Alwin Henle aufgenommen 1901
An den vier Tagen der MUSICA SACRA IN SYNAGOGE UND KIRCHE im Mai 2000 wirkten neben dem Laupheimer Singkreis unter Ludwig Schwedes, Andor Izsák der Leiter des Europäischen Zentrums für jüdische Musik aus Hannover, Prof. Stefan Klöckner aus Essen und Kantor Laszlo Pasztor aus Berlin mit. Annerose Wanner, Hilde Leber und Fidelis Braig gestalteten einen Liederabend. Die GGG enthüllte am Geburtshaus Henles eine Gedenktafel. In großer Zahl kamen Henle-Verwandte zu den Veranstaltungen. Dabei waren Moritz Henles Enkelinnen Ruth Chernoff mit ihrem Mann Leonard aus Pasadena in Californien, Lilo Plon aus Alicante in Spanien, Inge Kruse aus Charlottenlund, und Karin Sandvad mit Tochter Katrine aus Naerum in Dänemark.
Auch der Urenkel Jan Plon aus Vence in Frankreich kam mit fünf Angehörigen. Henles Großnichte Barbara Levy war mit ihrem Mann Jay und Tochter Ann aus New-York angereist. Einige aus der Henle-Familie trafen sich bei dieser Laupheimer Gelegenheit zum allerersten mal. Sie zeigten sich hoch erfreut über die Ehrung ihres Vorfahren durch die Veranstaltungen und die Gedenktafel. Der warmherzige Empfang, den Laupheimer bereitet haben, fand dabei besonderes Lob.