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Das jüdische Zwangsaltenheim

im Schloss Dellmensingen 1942

Dr. Michael Koch

Lange Zeit wurde darüber geschwiegen, was sich im Dellmensinger Schloss 1942 ereignet hat. Nur den alteingesessenen Familien im Ort war noch bekannt, dass sich hier von Februar bis August 1942 ein jüdisches Zwangsaltenheim befand, in dem insgesamt 128 zumeist ältere und pflegebedürftige Bewohnerinnen und Bewohner aus ganz Württemberg gegen ihren Willen leben mussten, weil sie als Juden immer weiter ausgegrenzt und entrechtet worden sind. Dieses dunkle Kapitel der Dellmensinger Dorfgeschichte endete am 19. August 1942 mit der Deportation der noch verbliebenen 101 Bewohnerinnen und Bewohner nach Theresienstadt. Lediglich ein kurzer Beitrag in der Dorfchronik anlässlich der 900-Jahrfeier von 1992 erinnerte noch daran.

Nicht zufällig war einer der beiden Verfasser dieses Beitrags Ernst Schäll, denn die Spuren dieser traurigen Ereignisse reichen auch nach Laupheim. Auf dem jüdischen Friedhof befinden sich die Gräber von 17 Jüdinnen und Juden, die bereits nach kurzem Aufenthalt in dem Dellmensinger Elendsquartier verstorben sind. Die auffallend hohe Sterblichkeit ist ein wichtiger Hinweis dafür, dass es sich bei der provisorischen Behausung im Schloss – wie auch im ehemaligen Laupheimer Rabbinat sowie einer Reihe weiterer Zwangsaltenheime in Württemberg – lediglich um eine Zwischenstation in den Tod handelte. Zu den Kriterien für die Auswahl dieser Unterkünfte zählte, dass sie im Verborgenen vor einer größeren städtischen Öffentlichkeit lagen, leicht überwacht werden konnten und über einen nahegelegenen Gleisanschluss verfügten.

Die prekären Lebensumstände in allen jüdischen Zwangsaltenheimen waren beabsichtigt. Durch die ständige Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, die fehlende medizinische Versorgung und den Mangel an alltäglichen Gebrauchsgütern mussten die Bewohnerinnen und Bewohner große Not erleiden. Entsprechend erinnerte sich die jüdische Berufskrankenschwester Elsa Ruth Rieser aus Laupheim, eine von nur vier Überlebenden, später an ihren Aufenthalt in Dellmensingen: „Dann kamen wir ins [Stuttgarter] Altersheim, anschließend nach Dellmensingen in ein Massenlager, natürlich wurde das Essen knapp und die Behandlung auch entsprechend. Wir durften das Haus nicht verlassen ohne Ausweis vom dortigen Bürgermeister.“ Zu der materiellen Not kamen die drangvolle Enge im Schloss, die fehlende Privatsphäre, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung durch die nahezu komplette Isolierung der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner. Entwurzelt aus ihrem angestammten sozialen Umfeld waren die Kontakte zu Angehörigen zumeist längst abgebrochen, da diese Deutschland entweder verlassen hatten oder selbst staatlichen Verfolgungsmaßnahmen und Deportationen ausgeliefert waren.

Alle 128 Bewohnerinnen und Bewohner des jüdischen Zwangsaltenheims sind namentlich bekannt. Die meisten von ihnen lebten zuletzt in Stuttgart. Hinzu kamen weitere Personen aus ganz Württemberg, wie z.B. aus Heilbronn, Schwäbisch Gmünd, Göppingen oder Ulm. Elsa Ruth Rieser zählte zu insgesamt neun Personen, die ursprünglich aus Laupheim stammten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch: Sofie Henle, Adolf Laupheimer, Selma Löwenthal, Clarisse Steiner, Emma Maas, geb. Steiner, Fanny Nathan, geb. Heumann, Selma Wertheimer sowie Babette Rosenberger, die Frau des Lehrers Samuel Rosenberger, die mehrere Jahre im Schulhaus der jüdischen Volksschule in der Radstraße gelebt hatte.

Aufgrund der räumlichen Nähe beider Orte sowie der noch immer vorhandenen Kontakte zu den Bewohnerinnen und Bewohnern des Laupheimer Zwangsaltenheims im ehemaligen Rabbinat war man auch in Laupheim gut informiert über die Vorgänge in Dellmensingen. Dies belegen Briefe von Lina Wertheimer, deren Tochter Selma Wertheimer – wie Schwester Ruth – zum Pflegepersonal in Dellmensingen zählte.

In einem Brief vom 15. Juli 1942 thematisierte Lina Wertheimer die häufigen Beerdigungen auf dem jüdischen Friedhof: „Wir haben oft Gäste von Dellmensingen“, wo „schon viele Insassen gestorben [sind], die auf dem hiesigen Friedhof beerdigt werden, da kommen dann immer einige Personen zur Begleitung mit.“ Als Lina Wertheimer diese Zeilen verfasste, waren im Dellmensinger Zwangsaltenheim bereits 13 Personen verstorben, vier weitere sollten bis zu dessen Auflösung am 19. August 1942 noch folgen.

Im Schloss herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Durch immer neue Zuzüge lag die Gesamtzahl der Bewohnerinnen und Bewohner im Schloss trotz der vielen Todesfälle relativ konstant zwischen 90 und 100 Personen. Fünf Personen fielen den Deportationen nach Izbica und nach Auschwitz zum Opfer, drei weitere Personen wurden frühzeitig verlegt nach Buttenhausen bzw. nach Zwiefalten und in die Lungenheilanstalt ins badische Nordrach, während Alfred Marx und die 15jährige Mina Hirsch bis zu ihrer späteren Deportation noch zu ihren Familien nach Stuttgart bzw. Ulm zurückkehren durften. Die angekündigte Räumung der Zwangsunterkunft sprach sich im Ort schnell herum. Ein Teil der Dellmensinger nahm dies zum Anlass, zum Schloss zu gehen, um sich dort noch „beschenken zu lassen“. Seit dem Transport von Gepäck und Möbeln der Neuankömmlinge vom Bahnhaltepunkt zum Schloss, zu dem Bauern mit ihren Fuhrwerken verpflichtet worden waren, wusste man, dass sich auch sehr wohlhabende Juden unter den Insassen befanden. Davon wollte man auch im Dorf noch profitieren, bevor Finanzbeamte aus Ulm den übrigen Besitz zugunsten des Reiches abtransportieren ließen. 

Am 19. August 1942 wurde das Dellmensinger Zwangsaltenheim mit der Deportation der letzten 101 Bewohnerinnen und Bewohner nach Theresienstadt aufgelöst. Mit ihren letzten Habseligkeiten verließen die Alten und Pflegebedürftigen auf offenen Lastkraftwagen den Ort, den sie in der Zwischenzeit nicht hatten betreten dürfen. Eine Dellmensingerin, die zum Abschied noch Blumen geworfen hatte, wurde denunziert und musste für drei Wochen nach Ulm ins Gefängnis. Der mit der Überwachung der Juden beauftragte Dorfpolizist meldete an seine vorgesetzte Dienststelle, dass sich beim Transport nach Stuttgart keine Anstände ergeben hätten.   

Die meisten der Verschleppten verstarben in Theresienstadt innerhalb weniger Tage und Wochen auf dem Dachboden der „Dresdner Kaserne“. Alle anderen wurden in immer neuen Transporten in die Vernichtungslager verschleppt und dort zumeist noch am Tag ihrer Ankunft ermordet. Nur vier Personen erlebten die Befreiung von Theresienstadt durch die Rote Armee am 8. Mai 1945, unter ihnen die zwei Laupheimerinnen Elsa Ruth Rieser und Clarisse Steiner. 

Eine Sonderausstellung im Laupheimer Museum zur Geschichte von Christen und Juden widmete sich 2020 erstmals diesem Thema und erinnerte mit den Alten und Gebrechlichen der 1942 noch verbliebenen jüdischen Bevölkerung zugleich an eine wenig beachtete Opfergruppe des NS-Staats, für die es bis zur endgültigen Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager kein Entkommen mehr gab.

Der Begleitband zur Ausstellung „Schloss Dellmensingen 1942 – Ein jüdisches Zwangsaltenheim in Württemberg“ (ISBN 978-3-00-066266-9) ist für 15,- € (zzgl. Porto und Versandkosten) erhältlich über das Museum zur Geschichte von Christen und Juden in Laupheim.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ansichten der letzten Grabreihen im jüdischen Friedhof.

 

 

 

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