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Auswanderung und Emigration

Udo Bayer

Drei Laupheimer (aus: Schwabenspiegel. Biberach 2006, Bd. 2 S. 889-899)

Die deutsche Sprache erlaubt die Unterscheidung zwischen Auswanderung und Emigration. Wie Württemberg insgesamt, so ist auch Laupheim von der Auswanderungsbewegung im 19. Jahrhundert betroffen. Hierbei dominieren, nach 1848, bei weitem die wirtschaftlichen Beweggründe über die politischen. Hauptzielland waren die Vereinigten Staaten. Die seit einem Jahrzehnt zu einem Museum umgestalteten riesigen Abfertigungsgebäude in Ellis Island vor New York vergegenwärtigen uns plastisch die Masseneinwanderung. Sie waren allerdings nur von 1892 bis 1954 in Betrieb. Es überrascht nicht, dass die auf Amerika gesetzten Hoffnungen sich keineswegs für alle erfüllten, und nur Wenigen der Traum vom sozialen Aufstieg nach ganz oben wahr wurde. Zu ihnen gehört Carl Laemmle, dessen Lebenswerk im Zusammenhang mit der Filmgeschichte als des modernen Massenmediums schlechthin nicht nur deswegen in diesem eigentlich vornehmlich der Literatur gewidmeten Band Berücksichtigung findet, sondern auch, weil die Beziehungen der bedeutendsten Werke seines Studios zur Literatur eng sind. Emigration verbindet sich für uns vor allem mit Flucht vor Verfolgung, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus. Mit diesem politischen Kontext sind Leben und Arbeit von Siegfried Einstein und Hertha Nathorff-Einstein, deren kulturelles Wirken in New York es verdient, gewürdigt zu werden, untrennbar verbunden. Als literarische Existenz im eigentlichen Sinn hat sich nur Siegfried Einstein verstanden, aber die literarische Produktion von Hertha Nathorff und ihr kulturelles Wirken in New York verdienen es ebenfalls, hier Beachtung zu finden. Der grobe Zeitrahmen dieses Bandes reicht nur in die fünfziger jähre. Doch die Geschichte des Gedächtnisses aller drei hier vorgestellten Persönlichkeiten, das Sammeln ihrer Spuren in Laupheim und - bei den beiden jüngeren - die Kontakte mit Laupheim aus späterer Zeit gehören untrennbar zu ihrer Rezeption wie zur Bewusstseinsgeschichte der Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg und sind insofern sicher symptomatisch für den Umgang mit deutsch-jüdischer Kultur, auch (und gerade) wenn sie in direktem Bezug zu einem Ort stehen.

 

Der Abschied

Nach seiner Lateinschulzeit - er musste nach seiner Barmizwah, also im Alter von dreizehn Jahren, die Schule verlassen - hatte Laemmle in Ichenhausen im Geschäft von Verwandten seine Kenntnisse erweitert, aber die wirtschaftlichen Aussichten erschienen ihm in Deutschland nicht verlockend, zumal das Immobiliengeschäft des Vaters offenbar nur einen bescheidenen Wohlstand ermöglichte. Sein Plan, dem älteren Bruder nach Chicago zu folgen, scheiterte zunächst am Widerstand der Mutter. Laemmles aus der Lektüre von Romanen gespeiste Begeisterung für Indianer, Wildwestreiter und Buffalo Bill spielte für die Auswanderungspläne wohl eine ebenso große Rolle wie die Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg. Später sollten ihm noch seine Brüder Louis und Siegfried, der Vater des Filmregisseur Ernest Laemmle, folgen.

1884 war es aber soweit. Laemmle wurde aus der württembergischen Staatsangehörigkeit entlassen und verabschiedete sich zu einer dreizehntätigen Überfahrt nach New York auf dem Motorsegler "Neckar". Aus dem Poesiealbum, das der Vater mit selbstverfassten Abschiedsversen begonnen hatte und Laemmle über Jahrzehnte begleitete, geht hervor, dass Laemmle schon seit 1886, zwei Jahre nach der Ankunft in Castle Garden, regelmäßig Fahrten in die Heimat unternommen hat.

Ganz anders hingegen war die Situation im Falle Hertha Nathorffs. Unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 durch die Nationalsozialisten begannen für jüdische Ärzte die beruflichen Schikanen; 1938 verloren dann alle jüdischen Ärzte ihre Approbation. Vor diesem Hintergrund berät sich Helga Nathorff zweimal, 1934 und 1937, mit Carl Laemmle bei ihren gemeinsamen Treffen in der Schweiz über eine mögliche Emigration. Obwohl Laemmle die Lage zuerst als wenig bedrohlich einschätzt und die Nathorffs auf die schwierige Arbeitsmarktsituation in Amerika hinweist, stellt er ihnen schließlich doch ein Affidavit, eine für die Immigration notwendige Garantieerklärung aus, das im August 1938 beim US-Generalkonsulat in Berlin eingereicht wird. Die Entscheidung zieht sich hin, die Demütigungen nehmen zu. Im Tagebuch notiert Hertha Nathorff: "Unzählige Menschen standen mit mir an dem kalten dunklen Novembermorgen in dem feuchten Vorgarten des amerikanischen Konsulats. Frauen, blaß, vergrämt, Frauen aus Berlin, Leipzig, Breslau, alle tragen das gleiche Leid, und sie schweigen, handeln schweigend für ihre Männer und weinen im Herzen - Frauenkreuzzug! [...] Großvater Nathorff wohnte hier viele, viele Jahre bis zu seinem Tode. Und ich stehe heute bettelnd und frierend vor der Tür, Stunden um Stunden." (Nathorff, Tagebuch1987, S. 127) Die Probleme nehmen zu: Das Konsulat verweigert eine Bescheinigung über das zwei Monate zuvor eingereichte Affidavit; der Plan, über Kuba einzuwandern, scheitert ebenfalls, die deutschen Behörden versuchen, legitimiert durch das Gesetz zur "Reichsfluchtsteuer" und der "Sühneabgabe", das Vermögen zu beschlagnahmen. Immerhin gelingt es 1939, Sohn Heinz eine Aufenthaltsgenehmigung für England zu besorgen. Die kümmerlichen Reste der Habe, die man den Nathorffs lässt, erreicht den Speditionscontainer nie. Nach einem Abschiedsbesuch bei den Eltern in Laupheim können beide jedoch endlich Ende April 1939, ebenfalls von Bremerhaven aus, Deutschland Richtung England verlassen; zehn Monate später, im Februar 1940 kommen sie in New York an. In einem Asyl für jüdische Obdachlose, dem Congress House, finden sie ihr erstes Zuhause in der neuen Welt.

Siegfried Einstein erlebt die nationalsozialistische Machergreifung als vierzehnjähriger Schüler der Real- und Lateinschule in Laupheim. Bei dem Boykott am 1. April 1933 werden die großen Schaufenster des Einstein'schen Textilgeschäfts zertrümmert. Die traumatische Reaktion des Jungen hierauf und die nachfolgende Demütigung ist nachvollziehbar:

Das war für mich, den Vierzehnjährigen, etwas so Ungeheuerliches, dass ich mit einem Nervenschock zwei Tage später wieder zum Schulunterricht ging. Ich vergesse niemals, wie mein Mathematiklehrer, der vor 1933 im Hause meiner Eltern freundlich verkehrt hatte, mich bat: "Nun Siegfriedle, komm mal an die Tafel". Ich ging nach vorne ohne Argwohn. Er sagte, ich solle mein Gesicht genau an die Tafel halten und er wolle mit der Kreide meine Schädelform nachfahren. Das tat er. Als ich von der Tafel zurücktrat, war ich entsetzt über mein Portrait: Denn ich hatte eine riesenlange Nase [...] ich hatte ungeheuer große Ohren [...] und er sagte vor versammelter Klasse, die lachte und höhnte, sie erkennten nun, wie ein jüdischer Junge auszusehen habe. Für mich, den Knaben, sehr sensibel, manchmal überempfindlich, kam nun das Allerfürchterlichste: Bis auf einen Freund lachte die versammelte Klasse und schrie, was wahrscheinlich in ganz Deutschland an ähnlichen Orten so geschah, dass das nun der Jud sei. (Levinson 1983, S. 17)

Nach der Denunziation des Vaters durch den Chauffeur und Dekorateur des Geschäfts, und nachdem Siegfried einige Monate später mit Steinen beworfen wird, beschließt die Familie ihn zu Verwandten in die Schweiz zu schicken, wo er zunächst ein Internat in St. Gallen besucht, dann aber über vier Jahre Arbeitsdienst leisten muss. Einsteins Eltern gelingt die Flucht nach dem Zwangsverkauf ihres Geschäfts und der Internierung des Vaters in Dachau nach der Pogromnacht. 1940 trifft sich Siegfried Einstein in England mit den Nathorffs, um Emigrationsmöglichkeiten zu besprechen; er bleibt mit Hertha Nathorff in brieflichem Kontakt bis zu seinem Tod.

 

Spuren

Die Würdigung des humanitären Engagements Carl Laemmles für jüdische Flüchtlinge durch die Ausstellung von Bürgschaftserklärungen für insgesamt einige Hundert Personen ist erst seit einigen Jahren durch (nur unvollständig erhaltene) Dokumente der National Archives in Washington dokumentarisch belegt. Hier lagern 45 Dokumente aus Laemmles Korrespondenz mit amerikanischen Dienststellen zwischen 1936 und 1939, in denen er für die Rettung verfolgter Juden kämpft. Die restriktive Einwanderungspolitik der USA verlangte außer einem Visum bekanntlich eine Garantieerklärung, die einem Flüchtling Unterhalt garantierte. Nur Privatpersonen durften solche Affidavits ausstellen, was Laemmle großzügig tat. So schreibt er 1937 an das amerikanische Konsulat in Stuttgart: "Sie können sicher sein, dass, wenn ich ein Affidavit ausstelle, ich es in voller Kenntnis meiner Verantwortung tue und mein ganzes Herz und meine Seele damit verbunden sind. Ich brauche Ihnen nicht von den Leiden erzählen, die die deutschen Juden in diesen Zeiten durchmachen, und ich etwa fühle, dass jeder einzelne Jude, der finanziell in der Lage ist, diesen in übler Weise Bedürftigen zu helfen, dies unerschütterlich tun sollte." (Bayer 1996, S. 52). Die genaue Zahl derer, denen von Laemmle so bei der Überwindung des entscheidenden Hindernisses für die Emigration nach Amerika geholfen wurde, ist wegen der Lückenhaftigkeit der Dokumente und der Tatsache, dass ein Affidavit für die ganze Familie galt, nicht mehr genau zu ermitteln. Auch Thomas Mann und Albert Einstein wandten sich an Laemmle mit der Bitte um Unterstützung für Emigranten; mit Mann trifft er sich, wie dieser im Tagebuch festhält, auch in der Schweiz.

Laemmles humanitäres Engagement wurde jedoch nicht immer gewürdigt. Verantwortlich dafür waren die vor allem in Deutschland häufig wiederholten Angriffe auf Laemmle wegen seines indirekten Beitrags zur Kriegsführung ab 1917. Sofort nach Kriegseintritt der USA 1917 wurde ein staatliches Kriegs-Propagandabüro gegründet, das auch die Filmindustrie einspannte. Das von Erich von Stroheim verkörperte Stereotyp des "Hunnen", besonders deutlich in Heart of Humanity (1918), und der als erster langer Zeichentrickfilm filmhistorisch bemerkenswerte The Sinking of The Lusitania (1918) sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Beide Filme stammen aus den Universal Studios, deren Direktor Carl Laemmle war. Insgesamt wird aber heute die Bedeutung der Filmproduktion von 1917/18 als marginal eingeschätzt, und umso bedauerlicher ist das lang anhaltende Bild Laemmles in Deutschland als "Hetzfilmjude". Der erste Anlass für die öffentlichen Angriffe auf Laemmle war die 1919 von Laupheim verliehene und später wieder zurückgenommene Ehrenbürgerwürde, die sogar die Landesregierung beschäftigte. Das zweite und entscheidende Ereignis aber war die Aufführung der Verfilmung von E. M. Remarques Roman Im Westen nichts Neues im Dezember 1930 in Berlin und die damit verbundenen, von der politischen Rechten, allen voran Goebbels, inszenierten Krawalle. Laemmle besuchte nach diesen Auseinandersetzungen und dem zeitweiligen Verbot des Films, der dann nur mit Schnittauflagen gezeigt werden durfte, Deutschland nicht mehr. In Laupheim unterdessen beschloss der Gemeinderat im Juni 1933, "da die politische Entwicklung der letzten Monate dies notwendig erscheinen lasse" (Gemeinderatsprotokoll in der Ausst. d. Museums), die nach Laemmle benannte Straße wieder umzubenennen, was die Familie tief verletzte. Max Friedland, zuletzt Generalbevollmächtigter der Universal für Europa, verheiratet mit einer Nichte Laemmles, hatte schon im März mit seiner Familie das Haus der Laemmles Richtung Paris verlassen. Im Laupheimer "Museum zur Geschichte von Christen und Juden" erinnert heute eine eigene Abteilung mit Exponaten, die zu einem Großteil aus einer Schenkung der Familie stammen, wieder an Carl Laemmle; außerdem ist das Gymnasium in Laupheim nach ihm benannt - eine Ehrung, die auch half, die persönlichen Kontakte zu Laemmles Großnichte in New York, einer Tochter Friedlands und zu den anderen Familienmitgliedern in Los Angeles herzustellen, insbesondere zu Laemmles Schwiegersohn Stanley Bergerman und zu seiner Nichte Carla.

Auch die Erinnerung an Laemmle in Los Angeles verlief nicht gradlinig, wenngleich er durch einen Stern auf dem Walk of Fame des Hollywoodboulevards vertreten und dadurch immer präsent war. Aber die Frage, wie intensiv sich Universal an ihren Gründer erinnert, hängt vom jeweiligen Mehrheitseigentümer ab. Im Jahr 2000 wurde einem großen Bürohochhaus der Name "Laemmle Tower" verliehen - Zeichen des Gedenkens an den Firmengründer. In den Besucherbähnchen werden Dokumentationen aus der Laemmle-Zeit gezeigt.

Die Erinnerung an Hertha Nathorff ist ebenfalls mit der ehemaligen Lateinschule in Laupheim verknüpft. Seit 1986 wird in ihrem Namen ein Preis für das beste Abitur des Gymnasiums ausgelobt; die gute Erinnerung an ihre frühere Schule hatte sie hierzu bewogen. Sie war das erste Mädchen, das 1905 zum Schulbesuch zugelassen wurde. "Niemals hatte ich in all diesen Jahren zu spüren bekommen, dass ich etwa nicht dazu gehörte oder weniger galt als die anderen, weil ich Jüdin war" schreibt sie im Vorwort zu ihrem Tagebuch, dessen Publikation im Jahr 1987 durch das Institut für Zeitgeschichte ihren Namen wieder einem größeren Publikum bekannt gemacht hat. Bereits 1940 hatte sie das Manuskript bei einem Wettbewerb der Harvard University mit dem Titel Mein Leben in Deutschland eingereicht; es wurde mit einem Preis bedacht und verschwand im Archiv. Wolfgang Benz, der Herausgeber, unterstreicht in seinem Vorwort jedoch die Bedeutung dieser Aufzeichnungen: "Hertha Nathorffs Leben ist exemplarisch, und sie protokollierte mit ihrem Alltag die Situation aller Juden in Deutschland, die einzelnen Stufen der Diskriminierung bis zur Entrechtung, bis zum Kampf ums nackte Überleben durch die Flucht aus der Heimat. Die andere, nicht minder paradigmatische Bedeutung dieses Tagebuchs liegt darin, dass dokumentiert wird, wie der Kampf ums Überleben nach dem Überschreiten der deutschen Grenzen weiterging. Viele andere Schilderungen setzen erst mit dem Ende der Normalität - mit der Flucht, der Verhaftung, der Deportation - ein und zeigen damit nur einen Ausschnitt [...]. Hertha Nathorff legt in der durchaus subjektiven Beschreibung ihrer Erlebnisse und Erfahrungen von 1933 bis 1945 die Zusammenhänge von Ablösung und Neubeginn, Zusammenbruch der Existenz und Fortdauer so vieler Bindungen offen, daher ist ihr Tagebuch Singular und über seinen literarischen Wert hinaus eine historische Quelle hohen Ranges." (Nathorff 1987, S. 16f.). Hertha Nathorffs literarische Arbeiten erschienen in Privatdrucken mit kleiner Auflage; daneben publizierte sie viel in Zeitungen, vor allem im New Yorker Aufbau. Der vielleicht wichtigste Teil ihres Wirkens, ihre persönlichen Kontakte zur deutschsprachigen Emigrantenszene in New York und zur Exilliteratur, ist dagegen nur unzureichend dokumentarisch rekonstruier- und belegbar.

Siegfried Einsteins Familie hatte nach dem Krieg nur ganz wenige Kontakte zu Laupheim. 1963 jedoch veröffentlichte sie in der Laupheimer Lokalzeitung für die ehemalige Haushälterin eine Todesanzeige, die mehr darstellte als nur einen Nachruf - sie war, 18 Jahre nach Ende der NS-Zeit, eine offene Anklage gegen den ehemaligen Heimatort und seine mehrheitlich dem Vergessen zugeneigte Öffentlichkeit. So heißt es dort:

Am 24. Januar 1915 kam sie als fleißige Helferin in unser Haus - zu einer Zeit, da Juden noch nicht in Viehwagen in den Tod gefahren wurden; zu einer Zeit, da es in diesem Laupheim noch eine stolze, geachtete Jüdische Gemeinde gab. Unsere Agnes Nothelfer, die unser aller "Anna" war in hellen und finsteren Jahren, verkörperte all jene Eigenschaften, über die man sonst nur in den schönsten Märchen etwas erfährt. Sie war gut und voller Liebe, sie war reinen Herzens und treu bis in den Tod. Treu - damals: als in einer kleinen Stadt nur noch wenige Menschen es wagten, einem Juden die Hand zu geben...

Einsteins Publikationen hatten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; die frühen literarischen Werke erschienen in der Schweiz in kleinen Verlagen. Sein Nachlass in Mannheim harrt noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung. An seinem Geburtshaus gibt es keine Gedenktafel; nur das Museum erinnert an ihn.

 

Lebensleistung und Wirkung

Laemmles Lebenswerk ist durch eine Fülle von Publikationen zu den Universal Studios, Filmdokumente von Reden an die Mitarbeiter usw. gut dokumentiert, nicht zuletzt durch die von ihm selbst bei dem damals recht bekannten englischen Schriftsteller John Drinkwater in Auftrag gegebene Lebensbeschreibung (1931). Nach seiner Ankunft in New York gelingt es Laemmle, seinen Bruder in Chicago über die Illinois Staatszeitung ausfindig zu machen, wo dieser arbeitet; er holt ihn zu sich. Nach diversen Tätigkeiten als Zeitungsverkäufer, Theaterstatist, Farmarbeiter und Buchhalter erhält Laemmle 1889 die amerikanische Staatsbürgerschaft und eine Anstellung bei der Continental Clothing in Oshkosh/Wisconsin. Laemmle steigt zum Geschäftsführer auf und entwickelt sich zum Werbefachmann. 1898 heiratet er die aus dem hessischen Hintersteinau stammende Nichte des Firmeninhabers und scheidet 1906 aus der Firma aus, zunächst mit dem Plan, in Chicago ein Textilgeschäft zu eröffnen. Doch es kam anders, wie er sich später erinnert:

Lustige Bildergeschichten - das ist's, sagte ich mir. Lass die Leute zahlen und bring sie zum Lachen. Jeder will lachen. Als ich in dieser Nacht zu meinem Hotel in Chicago zurückging, begann ich meine Pläne zu umreißen und am nächsten Tag brachte ich alles über das Geschäft in Erfahrung, was ich konnte. Drei Wochen, nachdem ich diese komischen Bilder gesehen hatte, hatte ich mein eigenes Theater in der Milwaukee Avenue. (Gabler1988, S. 52)

Laemmle hatte die Nickelodeons gesehen, in denen für 5 Cent Filme gezeigt wurden - das Massenmedium der Zukunft, wie Laemmle erkannte. Zehn Jahre zuvor hatte bereits die Leinwand die Guckkastenvorführung abgelöst, und die so genannten Storefront Theater hatten sich innerhalb eines Jahrzehnts, jenseits der Mittelschichtkultur, in Arbeiter- und Immigrantenvierteln als Unterschichtvergnügen etabliert, in denen vom Publikum die amerikanischen Traditionen und Mythen förmlich aufgesogen wurden. Pittsburgh und Chicago waren die ersten Zentren. Das Establishment der Ostküstenwirtschaft war am Filmgeschäft zunächst nicht interessiert; die großen Studiogründer waren allesamt Juden europäischer Herkunft, weshalb Gablers Untersuchung auch den treffenden Untertitel How the Jews invented Hollywood trägt. Man hat später versucht, in den frühen Filmen Spuren spezifischer Erfahrungen aus dem osteuropäischen Schtetl nachzuweisen, für Laemmle gilt das sicher nicht. Aber in vielem sind die Biographien der Zukor, Fox, Goldwyn, Lasky, Mayer, Fox und Warners und anderer vergleichbar.

Eine Reihe unvorhergesehener Ereignisse, die Laemmle klug und entschlossen zu nutzen wusste, markieren den rasanten Aufstieg seines Geschäfts. Rückblickend verfasst er 1927 übrigens ein über zweihundertseitiges, bisher unpubliziertes Manuskript über das Business in Motion Pictures. Bis in die Kartellauseinandersetzungen der vierziger und fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren die drei entscheidenden Ebenen des Filmgeschäfts - Theater, Verleih, Produktion - und ihre Verschränkung entscheidend für den geschäftlichen Erfolg. Laemmle stößt noch im Jahr 1906 ins Verleihgeschäft, weil der Nachschub für seine Theater stockte, drei Jahre später war der Laemmle Film Service der branchengrößte. Schon 1911 gab er das Vorführgeschäft wieder auf.

Zwischenzeitlich hatte sich im Filmgeschäft eine entscheidende Änderung vollzogen: die Gründung der Patentgesellschaft, an der Spitze Edison, die durch Bündelung einer Reihe von Patenten die Filmbranche unter Kontrolle zu bringen suchte. Zur selben Zeit gründet Laemmle eine eigene Produktionsgesellschaft und lässt seinen ersten Film, Hiawatha, nach der literarischen Vorlage von Longfellow drehen. Er schließt sich gegen den Trust mit anderen zur Independent Moving Picture Company zusammen. Zwei Mitstreiter haben Studios an der Westküste, im heutigen Los Angeles, und so verlagert sich langsam der Schwerpunkt der Filmindustrie von der Ost- zur Westküste - Laemmle wird Hollywoodpionier, baut als erster die Namen der Schauspieler in seine Werbung ein und begründet so das Starsystem, zu dem später Erich von Stroheim, Lon Chaney, Bela Lugosi und Boris Karloff gehören werden.

1912, nach Veränderungen in der Zusammensetzung der teilnehmenden Firmen, wird in New York die Universal gegründet. Laemmle wird 1914 ihr Präsident, ein Jahr später eröffnet er das Studio in Hollywood, noch heute das größte, das für Besucher geöffnet ist. Laemmle schreibt zur Eröffnung:

[...] eine ganze Stadt, in der jeder mit Filmproduktion beschäftigt ist, ein Märchenreich, in dem die verrücktesten Dinge auf der Welt passieren - ein Ort, an den man ein Leben lang denken und über den man reden wird! Sehen Sie, wie wir Brücken hochgehen lassen, Häuser abfackeln, Autos zu Schrott fahren -überhaupt, etwas zerstören, um den Leuten die Bilder zu geben, die sie wollen [...] um die Leute auf der ganzen Welt dazu zu bringen, zu lachen oder zu weinen oder auf der Stuhlkante zu sitzen. (Hirschhorn 1983, S. 12)

Allein das Stummfilmverzeichnis der Universal-Produktion enthält 9397 Titel. Die geschäftlichen Kontakte mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg münden 1929 in der Gründung der "Deutschen Universal". Seit 1929 durfte Laemmles Sohn Julius die Produktion der Firma bestimmen. In diese Zeit fallen die interessantesten und filmgeschichtlich bedeutendsten Werke nach literarischen Vorlagen. Die Bildsprache des Horrorfilms - das Genre, für das Universal vor allem bekannt ist - orientiert sich teilweise stark an den künstlerischen Gestaltungsmitteln des deutschen Films der zwanziger Jahre, insbesondere des expressionistischen. Dazu zählen vor allem der Hell-Dunkel-Kontrast, der Einsatz von Licht und Schatten zur Schaffung einer unheimlichen Atmosphäre sowie eine übersteigerte Gestik. Wie in Mary Shellys Frankenstein, Stokers Dracula oder Leroux' Phantom der Oper, kann Horror als "eine Gattung der Phantastik" definiert werden, "in deren Fiktionen das Unmögliche in einer Welt möglich und real wird, die der unseren weitgehend gleicht, und wo Menschen, die uns ebenfalls gleichen, auf diese Anzeichen der Brüchigkeit ihrer Welt mit Grauen reagieren." (Baumann 1993a, S. 109). Der Horrorfilm realisiert in extremer Form die prinzipielle Chance des neuen Mediums, jenseits der Schranken unserer Erfahrungswelt eine neue Welt zu schaffen. In Frankensteins Braut erfährt die literarische Vorlage sogar eine filmische Fortsetzung. Der Glöckner von Notre Dame und Der Mann, der lacht von Hugo gehören ebenfalls zu den europäischen Literaturvorlagen; auch Werke von E. A. Poe dienen als Ausgang für Verfilmungen. Eine Sonderstellung im Programm der Universal nimmt die mit zwei Oscars ausgezeichnete Verfilmung von Remarques Im Westen nichts Neues ein. Der Film sollte ursprünglich in Laupheim uraufgeführt werden, wird dann aber zunächst 1930 in Berlin gezeigt und, nach Störungen durch die extreme Rechte, von der Film-Oberprüfstelle für ein Dreivierteljahr mit der Begründung verboten, er verletze das Ansehen des Kriegsteilnehmers auf das empfindlichste. Die Deutsche Universal produziert noch 1932/33 einen Film über eine Polarexpedition, der wegen seiner Mitwirkenden, Leni Riefenstahl und Ernst Udet, bemerkenswert ist. Zu den filmgeschichtlichen Pionierleistungen der Universal gehört des weiteren das Genre des Science Fiction Films (Flash Gordon) und Walt Disneys erste Mausfigur für den King of Jazz (1930). Zu den bedeutenden Regisseuren, die für die Universal gearbeitet haben, zählen der schon als Schauspieler genannte von Stroheim, Louis Milestone, John Ford und William Wyler, ein Verwandter Laemmles. Laemmle Juniors anspruchsvolleres, nicht nur am kommerziellen Erfolg orientiertes Programm, die Umstellung auf den Tonfilm und die Weltwirtschaftskrise waren die wichtigsten Faktoren, die die Universal zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten brachten und schließlich die Laemmles 1936 zum Verkauf an einen Kreditgeber zwangen. Damit endete auch für Julius die Rolle in der Filmbranche. Erstirbt 1979.

Hertha Nathorffs literarisches Werk besteht aus Gedichten und Prosaskizzen, die sie vor allem für Zeitungen schrieb. An ihren Arbeiten, insbesondere an den Gedichten, wird deutlich, welch existenzielle, persönliche Bedeutung Schreiben in bestimmten Lebenssituationen haben kann. Ihre Texte verfolgen keine artistischen Ansprüche, sondern orientieren sich formal und inhaltlich eher an traditionellen Mustern. Die Klassik hatte - sicher bezeichnend für das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum - für sie einen hohen Stellenwert, so dass Hertha Nathorff vom Bücherschrank mit der Weimarer Goethe-Ausgabe als einem "Hausaltar" sprechen konnte. Aus dem 1966 erschienenen Bändchen Stimmen der Stille soll hierein Gedicht vorgestellt werden, das die wichtigsten Stationen ihres Lebens, Erinnerung und Gegenwart, evoziert:

 

DREI STÄDTE

Wenn ich träume: LAUPHEIM

Dann ist das Kinderland, Jugendland;

Schwabenerde, duftend und süß, würzig und schwer.

Und eine alte, traute Volksweise: Rosenstock, Holderblüt...

Und wenn ich denke: BERLIN

Dann ist das Herzensland,

Großstadtluft, wirbelnder Wind

Frauenlieb, Mutterglück, Erfüllung. Erfolg im Bern

Brausende, rauschende tönende Melodie

Beethoven ist es und Mozart zugleich.

Und wenn ich dann spüre: NEW YORK,

Dann ist das Völkergemisch

Hasten und Jagen in Wetter und Sturm

Kummer und Not -

Und manchmal sich lösend im Stimmengewirr

Melodien in Dur und in Moll.

Gershwin ist es und Sousa und Jitterbug -

 

(Nathorff 1966)

 

Beginnen wir mit Laupheim. Als erste Schülerin besuchte Hertha Einstein die Laupheimer Lateinschule, was seinerzeit für so ungewöhnlich galt, dass die widerstrebende Stuttgarter Kultusbehörde erst überzeugt werden musste. Ihr Abitur legt sie in Ulm ab. Die Studienjahre konfrontierten die Medizinstudentin zum ersten Male mit dem vor allem auch im akademischen Bereich virulenten Antisemitismus; so musste sie von einem Professor hören, der Name Einstein sei keine Empfehlung für sie. Nach ihrer Promotion in Heidelberg eröffnete Hertha Nathorff zusammen mit ihrem Mann Erich eine Praxis in Berlin und wurde 1923 leitende Ärztin am Entbindungs- und Säuglingsheim des Roten Kreuzes. Sie richtete eine der ersten Ehe- und Familienberatungsstellen in Deutschland am Krankenhaus Berlin-Charlottenburg ein und wirkte als Mitglied der Medizinischen Gesellschaft, der Berliner Ärztekammer und, als erste Frau, im Gesamtausschuss der Berliner Ärzte. Ihre Arbeit fand, wie erwähnt, 1933 ein jähes Ende.

Die Ankunft in New York im Februar 1940 stellt die Emigrantenfamilie vor eminente Schwierigkeiten. Immigrierte Mediziner müssen zunächst eine Sprachprüfung ablegen, dann ein medizinisches Examen. Hertha Nathorff verdient mit Putztätigkeit, als Küchenhilfe oder durch Krankenpflege den Lebensunterhalt. Etwa ein Dollar bleibt ihnen zunächst zum täglichen Leben, so ist es für sie illusorisch, die Voraussetzung für eigene Berufstätigkeit zu schaffen. Ihr Mann Erich besteht zwar das Examen, aber für die Praxiseinrichtung fehlt das Geld. Hertha Nathorff legt ebenfalls die Sprachprüfung ab, aber ihr Mann sieht es nicht gerne, dass auch sie sich auf das Medizinexamen vorbereiten will. Nur eine Prüfung als Nurse absolviert sie und hilft in der Praxis mit. 1944 versucht sie noch einmal über einen jüdischen Ausbildungsfonds Unterstützung für eine Ausbildung als Medizinerin zu bekommen, was aber abgelehnt wird. Erich Narthoff hat größtenteils Emigranten, teilweise Berliner Bekannte, als Patienten. Anfang 1942 beginnt Hertha Nathorff mit einer Tätigkeit, die ihr Leben für Jahrzehnte ausfüllen und ihrem Namen ein dankbares Erinnern sichern wird. "Charwoman during the day, Chairwoman at night" - tagsüber Putzfrau, am Abend Vorsitzende, wie sie den täglichen Rollenwechsel treffend umschreibt. Aus eigener Erfahrung mit den Schwierigkeiten von Immigranten bei der Ausübung ungewohnter sozialer Berufe vertraut, bietet sie dem New World Club (seit 1934 auch Herausgeber des Aufbau) unentgeltliche Kurse an, zunächst in Krankenpflege. Dann aber weitet sich ihre Tätigkeit auf kulturelle Aktivitäten aus, worunter vor allem Vorträge im deutschsprachigen Rundfunk zu nennen sind. Sogar mit Klavierspiel und Gesang in einem Restaurant verdient sie einige Extradollars. Später macht sie der New World Club zum einzigen auf Lebenszeit gewählten Ehrenmitglied des Direktoriums. Der Aufbau veröffentlichte die meisten ihrer Essays, Gedichte und Berichte, außerdem schreibt sie für die in Wisconsin erscheinende Welt und den American Herold. Sie wurde, was ihr besonders wichtig war, als Psychologin zugelassen, gehörte dem Stab der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic an und war Mitglied der Virchow Medical Society sowie der Association for the Advancement of Psychotherapy. Die Fülle persönlicher Kontakte mit der deutschsprachigen Emigrantenszene und ihrer Kultur, u.a. im "Literarischen Verein", hat von ihrer Seite leider keinen schriftlichen Niederschlag gefunden, sondern war nur im Gespräch über ihre persönlichen Erinnerungen lebendig.

Siegfried Einsteins erster Gedichtband Melodien in Dur und Moll (1946) trug ihm Lob und Anerkennung von Hermann Hesse und Thomas Mann ein. Hier findet sich auch sein bekanntestes Gedicht, das den Bezugspunkt seiner schriftstellerischen Existenz insgesamt formuliert:

 

SCHLAFLIED FÜR DANIEL

Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.

Und es ist Nacht.

Die Scheiben klirren im Wind,

da sind die Toten erwacht,

die Toten von Auschwitz, mein Sohn. Du weißt es nicht

Und träumst von Sternschnupp' und Mohn Und Sonn- und Mondgesicht.

Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.

Und es ist Nacht.

Die Toten stöhnen im Wind:

Viel Menschen sind umgebracht.

Du darfst nicht schlafen, mein Sohn, Und träumen von seliger Pracht. 

Sieh doch! Es leuchtet der Mohn Wie Blut so rot in der Nacht.

Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.

Und es ist Nacht.

Die Toten klagen im Wind -

Und niemand ist aufgewacht...

 

(Einstein 1946)

1952 ging Einstein nach Deutschland zurück, zuerst nach Lampertheim, dann nach Mannheim. Dort wirkte er als Dozent für Deutsche Literatur. Er verlagert sein schriftstellerisches Interesse auf publizistische Tätigkeit, in der er vor allem das Verhältnis der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu den Verbrechen der NS-Zeit thematisiert. Seine Arbeiten erscheinen, den Zeitumständen der sechziger Jahre geschuldet, zumeist in Zeitungen und Zeitschriften, die als politisch links galten und somit zu dieser Zeit nur einen beschränkten Leserkreis erreichten; es handelt sich dabei vor allem um den Simplizissimus, die Neue Zeitung in München und die Hamburger Andere Zeitung. Einsteins Stimme kam gewissermaßen zu früh.

Sein letztes Buch Eichmann - Chefbuchhalter des Todes (1961) verdankt, ähnlich wie Hannah Arendts Untersuchung, seine Entstehung dem Eichmann-Prozess in Jerusalem. Der Text ist in seiner Verbindung von Dokumentation und Zitat mit literarisch gestalteter Anklage, persönlicher Erinnerung an Opfer, Familiengeschichte und Zeitgeschichte in keine Gattung einzuordnen. Es ist dem Andenken von Einsteins Vaters gewidmet, "des Mannes, der mit allen anderen Juden im württembergischen Laupheim vor der brennenden Synagoge knien und schreien musste: Wir haben die Synagoge angezündet! Eichmann allein hätte nicht einen einzigen Wehrlosen in die Gaskammer, unter die Genickschußmeßlatte zwingen können" (Einstein 1961, S. 11). Der Schlusstext Ich klage an war in seiner radikalen Gegnerschaft gegen die Schlussstrichmentalität dieser Restaurationsepoche der jungen Bundesrepublik wohl kaum geeignet, dem Autor öffentliche Sympathien einzutragen: "Ihre Worte von Demokratie und Freiheit sind Schall und Rauch. Sie haben unter Hitler und Eichmann gedient, Sie hatten in der Stunde des Gewissens nicht einmal ein Herz für die Gequälten, Gefolterten und Ausgepeitschten in diesem Europa - und Sie, meine Herren, wollen nun von ,Demokratie' sprechen? Ihre Worte sind Lügen." (Ebd., S. 177) 1962 wird Einstein zum internationalen Weltfriedenskongress nach Moskau eingeladen, zwei Jahre später erhält er den Kurt-Tucholsky-Preis. Eine rege Vortragstätigkeit löst die Arbeit für Zeitungen zunehmend ab. Erst posthum werden zwei schmale Bände mit Gedichten und Essays, teilweise aus dem Nachlass, veröffentlicht: Meine Liebe ist erblindet (1984) und Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen? (1987). Die Titelgeschichte in Schofar ruft die Erinnerung an den Laupheimer Kantor zurück, greift aber vor allem im Gedenken an jüdische Dichter deutscher Sprache ein lebenslanges Thema Einsteins noch einmal auf: die Beschäftigung mit Autoren, die wie er Außenseiter waren. Seine Bemerkung über Else Lasker-Schüler gilt in gewisser Weise auch für seine Gedichte: "Doch wusste sie wie selten eine Dichterin, die [...] mit der Erkenntnis eines Hiob lebte, das große Grauen sichtbar zu machen: die ganze Tiefe der Demütigung, die Trauerbotschaft ohne Ende, den Todesschweiß" (Einstein 1987, S. 101). Auffällig an den späten Gedichten ist, dass sich bei Einstein weder Einflüsse der beiden für die Nachkriegsliteratur bedeutsamen Antipoden Benn und Brecht noch Bezüge zur so genannten Kahlschlag-Literatur zeigen. Das gleiche gilt für die formale Kühnheit Paul Celans, die bei Einstein fehlt - trotz der minimalen Altersdifferenz von einem Jahr bei vergleichbarer Biographie bzw. analogen politischen Erfahrungen. Wenn das leidende Ich, das beschädigte Leben im Zentrum der Gedichte Einsteins stehen, so überrascht es nicht, wenn sich auch hier keine Spuren typisch "linker" politischer Überzeugung bzw. Utopien finden; offenkundig bedeutete "links" für Einstein im Kern vor allem Antifaschismus, ohne aus dieser Haltung heraus einen positiven Gegenentwurf zu wagen. Politisch variiert Einstein das Thema Verfolgung. Sicher liegt eine Ursache seiner relativ geringen Resonanz auch in der Nichtteilnahme am aufblühenden literarischen Leben in der Bundesrepublik mit seinen Publikationsforen und Eitelkeiten, die offenbar für einen Außenseiter wie ihn keinen Platz und keine Identifikationsfolie boten.

 

Heimat und Judentum

Laemmles Beziehung zu seiner bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung immer noch als ein Stück Heimat empfundenen Geburtsstadt wird, vor allem angesichts seiner Prominenz, von den politischen Ereignissen überschattet. Er trifft sich in der Schweiz oder in Carlsbad mit Verwandten und Bekannten und hilft, wie kurz skizziert, in außergewöhnlicher Weise. Noch 1932 organisiert er zusammen mit anderen sogar eine Sammlung für die deutschen Olympiateilnehmer in Los Angeles, um ihnen die Überfahrt zu ermöglichen. Sicherlich hat die Verfolgung der Juden bei Laemmle auch zu einer stärkeren Rückbesinnung auf die Solidarität mit dem Judentum beigetragen; die deutschstämmigen Juden in Los Angeles fühlten sich eigentlich eher der amerikanischen Oberschicht zugehörig. Hertha Nathorff hat ihrem Verhältnis zu den drei wichtigsten Orten in ihrem Leben und damit auch der Erinnerung an Deutschland das oben zitierte Gedicht gewidmet. 1967 erhält ihr Wirken durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes die offizielle Anerkennung. Dennoch hat sie Deutschland nie wieder gesehen; und wie ernst ein Angebot war, das sie in ihren Beruf nach Deutschland zurückholen wollte, ist schwer abzuschätzen; eher scheint es so, dass auch bei ihr nicht wirklich versucht wurde, die Emigrantin zurückzugewinnen. Die kurz vor ihrem Tod noch entstandene Filmdokumentation ("Traumspuren" 1993 von Patrick Hörl, Film des Bayer. Rundfunks) zeigt ihr Leben in Amerika als Beispiel einer nie gelungenen Integration und Identifikation mit dem neuen Land, trotz der großen persönlichen Anerkennung, die ihr Wirken gefunden hat. Ein Gedicht aus Stimmen der Stille verdeutlicht, dass dieses Gefühl der Heimatlosigkeit sie nie verlassen hat und der Verlust ihres 1954 verstorbenen Mannes kaum zu überwinden war:

AN MEINEN MANN

HEIMAT - wo?

Das neue Land - ob es mir wirklich Heimat ist?

Ich frag's mich oft. Und ob mein Herz

Nicht doch so Mancherlei vermißt.

 

Ich frage mich. Und lausch' in mich hinein

Und kann mir selber keine Antwort geben.

War Heimat dort? Ist Heimat hier?

 

Ich weiß es nicht. Und weiß nur dies:

Ein tiefer Riß geht durch mein Herz,

Geht durch mein ganzes wirres Leben.

 

Und weiß noch mehr wo immer ich auch weilen mag -

Nicht Land, nicht Heim gibt meinem Herzen Ruh.

Nur eine einzige Heimstatt hab ich noch,

Darin ich wurzle. - Das bist - DU.

 

(Nathorff 1966)

 

"Der Heimatlose bin ich hier / und dort, / in allen Städten und auf allen / Gassen. / Da ist, so weit ich denken kann, kein Ort, / den nicht der Fremdling, der / ich bin, verlassen." Auch diese Verse aus Siegfried Einsteins Gedicht thematisieren das Gefühl der Heimatlosigkeit mit unüberbietbarer Prägnanz; es ist die Folgerung aus den politischen Ereignissen, die sein Leben prägten. Das Gedicht In meine Heimat nur im Tod erinnert noch einmal an das Trauma der Jugendzeit und definiert zugleich das Verhältnis zur Geburtsstadt mit einer Konsequenz, die Einstein auch lebte; doch schließt es, in der Evokation des Stückchens Land, das den Ahnen Heimat war, diese Rückkehr dann im Tod ein - Versöhnung kann man es nicht nennen. Siegfried Einstein wurde auf dem jüdischen Friedhof bestattet - wie übrigens nach 1945 auch andere ehemalige Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Der Kreis seines Lebens wird durch die doppelte Metaphorik des Steins geschlossen.

IN MEINE HEIMAT NUR IM TOD...

 

In meine Heimat möchte ich nicht zurück,

Nicht an den Ort, aus dem sie mich vertrieben.

Ich fühl, solang ich leb, das harte Stück

Des Steines, den sie johlend mir verschrieben

 

"Zur Strafe für den Juden", wie sie keuchten;

Vortrefflich zielten sie auf meine Stirn

Und als ich wankte, sah ich nur ein Leuchten:

 Im Gleitflug kam mein Traum von Tod und Hirn.

 

In meine Heimat möchte ich nicht zurück,

Solang dies kranke Herz noch pocht im Schlaf.

Doch sucht, ihr Männer Laupheims, sucht das Stück

Des Steines, der mich einst vorzüglich traf.

 

Und einer werf symbolisch ihn mir zu,

Eh der Rabbiner mir drei Schaufeln Erde gibt.

Das Stückchen Land, das meine Ahnen so geliebt,

Es diese mir im Tod zur letzten Ruh.

 

Das Bekenntnis zum Judentum und die Erinnerung an die Religion seiner Kindheit ist in seinem Werk bis zuletzt greifbar - darin unterscheidet sich Einstein wesentlich von anderen Autoren jüdischer Herkunft der Nachkriegszeit, die zur politischen Linken gehören. Die Verbindung von deutscher Sprache und Judentum ist das Charakteristikum der Mehrheit der Autorinnen und Autoren, über die er geschrieben hat und die uns heute sicher gegenwärtiger sind als noch der Zeit, da Einstein an sie erinnerte: "die großen glänzenden Talente, die Deutsche waren und Juden, Dichter jüdischen Glaubens und deutscher Sprache" (Einstein 1987, S. 96). Einsteins Werk stellt in seinen gedanklichen Wurzeln das späte Beispiel einer unwiederbringlichen Epoche deutsch-jüdischen Zusammenlebens dar. Das erklärt auch, weswegen er an keine Gruppe des Literaturbetriebs im Nachkriegsdeutschland Anschluss findet. Levinson resümiert die existenzielle Verbindung von Persönlichkeit und Religion, wenn er im Nachwort zu dem 1987 erschienenen Auswahlband Einstein folgendermaßen charakterisiert: "Und er war der exemplarische Jude, nicht orthodox, nicht observant, aber von einer stolzen, eindrucksvollen, unerschütterlichen Loyalität." 

So spiegeln sich in Leben und Leistung dreier Persönlichkeiten aus jüdischen Familien einer kleinen oberschwäbischen Stadt die prägenden politischen Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und die Bedeutung dessen, was wir mit Heimat, Auswanderung und Emigration an Bedeutung verbinden, wird exemplarisch greifbar.

 

 

 

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