Auswanderung
und Emigration
Udo Bayer
Drei
Laupheimer
(aus: Schwabenspiegel.
Biberach 2006, Bd. 2 S. 889-899)
Die
deutsche Sprache erlaubt die Unterscheidung zwischen Auswanderung und
Emigration. Wie Württemberg insgesamt, so ist auch Laupheim von der
Auswanderungsbewegung im 19. Jahrhundert betroffen. Hierbei dominieren, nach
1848, bei weitem die wirtschaftlichen Beweggründe über die politischen.
Hauptzielland waren die Vereinigten Staaten. Die seit einem Jahrzehnt zu einem
Museum umgestalteten riesigen Abfertigungsgebäude in Ellis Island vor New York
vergegenwärtigen uns plastisch die Masseneinwanderung. Sie waren allerdings nur
von 1892 bis 1954 in Betrieb. Es überrascht nicht, dass die auf Amerika
gesetzten Hoffnungen sich keineswegs für alle erfüllten, und nur Wenigen der
Traum vom sozialen Aufstieg nach ganz oben wahr wurde. Zu ihnen gehört Carl
Laemmle, dessen Lebenswerk im Zusammenhang mit der Filmgeschichte als des
modernen Massenmediums schlechthin nicht nur deswegen in diesem eigentlich
vornehmlich der Literatur gewidmeten Band Berücksichtigung findet, sondern
auch, weil die Beziehungen der bedeutendsten Werke seines Studios zur Literatur
eng sind. Emigration verbindet sich für uns vor allem mit Flucht vor
Verfolgung, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus. Mit diesem
politischen Kontext sind Leben und Arbeit von Siegfried Einstein und Hertha
Nathorff-Einstein, deren kulturelles Wirken in New York es verdient, gewürdigt
zu werden, untrennbar verbunden. Als literarische Existenz im eigentlichen Sinn
hat sich nur Siegfried Einstein verstanden, aber die literarische Produktion von
Hertha Nathorff und ihr kulturelles Wirken in New York verdienen es ebenfalls,
hier Beachtung zu finden. Der grobe Zeitrahmen dieses Bandes reicht nur in die fünfziger
jähre. Doch die Geschichte des Gedächtnisses aller drei hier vorgestellten
Persönlichkeiten, das Sammeln ihrer Spuren in Laupheim und - bei den beiden jüngeren
- die Kontakte mit Laupheim aus späterer Zeit gehören untrennbar zu ihrer
Rezeption wie zur Bewusstseinsgeschichte der Emigration nach dem Zweiten
Weltkrieg und sind insofern sicher symptomatisch für den Umgang mit deutsch-jüdischer
Kultur, auch (und gerade) wenn sie in direktem Bezug zu einem Ort stehen.
Der
Abschied
Nach
seiner Lateinschulzeit - er musste nach seiner Barmizwah, also im Alter von
dreizehn Jahren, die Schule verlassen - hatte Laemmle in Ichenhausen im Geschäft
von Verwandten seine Kenntnisse erweitert, aber die wirtschaftlichen Aussichten
erschienen ihm in Deutschland nicht verlockend, zumal das Immobiliengeschäft
des Vaters offenbar nur einen bescheidenen Wohlstand ermöglichte. Sein Plan,
dem älteren Bruder nach Chicago zu folgen, scheiterte zunächst am Widerstand
der Mutter. Laemmles aus der Lektüre von Romanen gespeiste Begeisterung für
Indianer, Wildwestreiter und Buffalo Bill spielte für die Auswanderungspläne
wohl eine ebenso große Rolle wie die Hoffnung auf wirtschaftlichen Erfolg. Später
sollten ihm noch seine Brüder Louis und Siegfried, der Vater des Filmregisseur
Ernest Laemmle, folgen.
1884
war es aber soweit. Laemmle wurde aus der württembergischen Staatsangehörigkeit
entlassen und verabschiedete sich zu einer dreizehntätigen Überfahrt nach New
York auf dem Motorsegler "Neckar". Aus dem Poesiealbum, das der Vater
mit selbstverfassten Abschiedsversen begonnen hatte und Laemmle über Jahrzehnte
begleitete, geht hervor, dass Laemmle schon seit 1886, zwei Jahre nach der
Ankunft in Castle Garden, regelmäßig Fahrten in die Heimat unternommen hat.
Ganz
anders hingegen war die Situation im Falle Hertha Nathorffs. Unmittelbar nach
der Machtübernahme 1933 durch die Nationalsozialisten begannen für jüdische
Ärzte die beruflichen Schikanen; 1938 verloren dann alle jüdischen Ärzte ihre
Approbation. Vor diesem Hintergrund berät sich Helga Nathorff zweimal, 1934 und
1937, mit Carl Laemmle bei ihren gemeinsamen Treffen in der Schweiz über eine mögliche
Emigration. Obwohl Laemmle die Lage zuerst als wenig bedrohlich einschätzt und
die Nathorffs auf die schwierige Arbeitsmarktsituation in Amerika hinweist,
stellt er ihnen schließlich doch ein Affidavit, eine für die Immigration
notwendige Garantieerklärung aus, das im August 1938 beim US-Generalkonsulat in
Berlin eingereicht wird. Die Entscheidung zieht sich hin, die Demütigungen
nehmen zu. Im Tagebuch notiert Hertha Nathorff: "Unzählige Menschen
standen mit mir an dem kalten dunklen Novembermorgen in dem feuchten Vorgarten
des amerikanischen Konsulats. Frauen, blaß, vergrämt, Frauen aus Berlin,
Leipzig, Breslau, alle tragen das gleiche Leid, und sie schweigen, handeln
schweigend für ihre Männer und weinen im Herzen - Frauenkreuzzug! [...] Großvater
Nathorff wohnte hier viele, viele Jahre bis zu seinem Tode. Und ich stehe heute
bettelnd und frierend vor der Tür, Stunden um Stunden." (Nathorff,
Tagebuch1987, S. 127) Die Probleme nehmen zu: Das Konsulat verweigert eine
Bescheinigung über das zwei Monate zuvor eingereichte Affidavit; der Plan, über
Kuba einzuwandern, scheitert ebenfalls, die deutschen Behörden versuchen,
legitimiert durch
das
Gesetz
zur
"Reichsfluchtsteuer" und der "Sühneabgabe", das Vermögen
zu beschlagnahmen. Immerhin gelingt es 1939, Sohn Heinz eine
Aufenthaltsgenehmigung für England zu besorgen. Die kümmerlichen Reste der
Habe, die man den Nathorffs lässt, erreicht den Speditionscontainer nie. Nach
einem Abschiedsbesuch bei den Eltern in Laupheim können beide jedoch endlich
Ende April 1939, ebenfalls von Bremerhaven aus, Deutschland Richtung England
verlassen; zehn Monate später, im Februar 1940 kommen sie in New York an. In
einem Asyl für jüdische Obdachlose, dem Congress House, finden sie ihr erstes
Zuhause in der neuen Welt.
Siegfried
Einstein erlebt die nationalsozialistische Machergreifung als vierzehnjähriger
Schüler der Real- und Lateinschule in Laupheim. Bei dem Boykott am 1. April
1933 werden die großen Schaufenster des Einstein'schen Textilgeschäfts zertrümmert.
Die traumatische Reaktion des Jungen hierauf und die nachfolgende Demütigung
ist nachvollziehbar:
Das
war für mich, den Vierzehnjährigen, etwas so Ungeheuerliches, dass ich mit
einem Nervenschock zwei Tage später wieder zum Schulunterricht ging. Ich
vergesse niemals, wie mein Mathematiklehrer, der vor 1933 im Hause meiner Eltern
freundlich verkehrt hatte, mich bat: "Nun Siegfriedle, komm mal an die
Tafel". Ich ging nach vorne ohne Argwohn. Er sagte, ich solle mein Gesicht
genau an die Tafel halten und er wolle mit der Kreide meine Schädelform
nachfahren. Das tat er. Als ich von der Tafel zurücktrat, war ich entsetzt über
mein Portrait: Denn ich hatte eine riesenlange Nase [...] ich hatte ungeheuer
große Ohren [...] und er sagte vor versammelter Klasse, die lachte und höhnte,
sie erkennten nun, wie ein jüdischer Junge auszusehen habe. Für mich, den
Knaben, sehr sensibel, manchmal überempfindlich, kam nun das Allerfürchterlichste:
Bis auf einen Freund lachte die versammelte Klasse und schrie, was
wahrscheinlich in ganz Deutschland an ähnlichen Orten so geschah, dass das nun
der Jud sei. (Levinson 1983, S. 17)
Nach
der Denunziation des Vaters durch den Chauffeur und Dekorateur des Geschäfts,
und nachdem Siegfried einige Monate später mit Steinen beworfen wird, beschließt
die Familie ihn zu Verwandten in die Schweiz zu schicken, wo er zunächst ein
Internat in St. Gallen besucht, dann aber über vier Jahre Arbeitsdienst leisten
muss. Einsteins Eltern gelingt die Flucht nach dem Zwangsverkauf ihres Geschäfts
und der Internierung des Vaters in Dachau nach der Pogromnacht. 1940 trifft sich
Siegfried Einstein in England mit den Nathorffs, um Emigrationsmöglichkeiten zu
besprechen; er bleibt mit Hertha Nathorff in brieflichem Kontakt bis zu seinem
Tod.
Spuren
Die
Würdigung des humanitären Engagements Carl Laemmles für jüdische Flüchtlinge
durch die Ausstellung von Bürgschaftserklärungen für insgesamt einige Hundert
Personen ist erst seit einigen Jahren durch (nur unvollständig erhaltene)
Dokumente der National Archives in Washington dokumentarisch belegt. Hier lagern
45 Dokumente aus Laemmles Korrespondenz mit amerikanischen Dienststellen
zwischen 1936 und 1939, in denen er für die Rettung verfolgter Juden kämpft.
Die restriktive Einwanderungspolitik der USA verlangte außer einem Visum
bekanntlich eine Garantieerklärung, die einem Flüchtling Unterhalt
garantierte. Nur Privatpersonen durften solche Affidavits ausstellen, was
Laemmle großzügig tat. So schreibt er 1937 an das amerikanische Konsulat in
Stuttgart: "Sie können sicher sein, dass, wenn ich ein Affidavit
ausstelle, ich es in voller Kenntnis meiner Verantwortung tue und mein ganzes
Herz und meine Seele damit verbunden sind. Ich brauche Ihnen nicht von den
Leiden erzählen, die die deutschen Juden in diesen Zeiten durchmachen, und ich
etwa fühle, dass jeder einzelne Jude, der finanziell in der Lage ist, diesen in
übler Weise Bedürftigen zu helfen, dies unerschütterlich tun sollte."
(Bayer 1996, S. 52). Die genaue Zahl derer, denen von Laemmle so bei der Überwindung
des entscheidenden Hindernisses für die Emigration nach Amerika geholfen wurde,
ist wegen der Lückenhaftigkeit der Dokumente und der Tatsache, dass ein
Affidavit für die ganze Familie galt, nicht mehr genau zu ermitteln. Auch
Thomas Mann und Albert Einstein wandten sich an Laemmle mit der Bitte um Unterstützung
für Emigranten; mit Mann trifft er sich, wie dieser im Tagebuch festhält, auch
in der Schweiz.
Laemmles
humanitäres Engagement wurde jedoch nicht immer gewürdigt. Verantwortlich
dafür waren
die
vor
allem
in Deutschland häufig wiederholten Angriffe auf Laemmle wegen seines
indirekten Beitrags zur Kriegsführung ab 1917. Sofort nach Kriegseintritt der
USA 1917 wurde ein staatliches Kriegs-Propagandabüro gegründet, das auch die
Filmindustrie einspannte. Das von Erich von Stroheim verkörperte Stereotyp des
"Hunnen", besonders deutlich in Heart of Humanity (1918), und der als
erster langer Zeichentrickfilm filmhistorisch bemerkenswerte The Sinking of The
Lusitania (1918) sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Beide Filme stammen
aus den Universal Studios, deren Direktor Carl Laemmle war. Insgesamt wird aber
heute die Bedeutung der Filmproduktion von 1917/18 als marginal eingeschätzt,
und umso bedauerlicher ist das
lang
anhaltende
Bild
Laemmles
in Deutschland als
"Hetzfilmjude". Der erste Anlass für die öffentlichen Angriffe auf
Laemmle war die 1919 von Laupheim verliehene und später wieder zurückgenommene
Ehrenbürgerwürde, die sogar die Landesregierung beschäftigte. Das zweite und
entscheidende Ereignis aber war die Aufführung der Verfilmung von E. M.
Remarques Roman Im Westen nichts Neues im Dezember 1930 in Berlin und die damit
verbundenen, von der politischen Rechten, allen voran Goebbels, inszenierten
Krawalle. Laemmle besuchte nach diesen Auseinandersetzungen und dem zeitweiligen
Verbot des Films, der dann nur mit Schnittauflagen gezeigt werden durfte,
Deutschland nicht mehr. In Laupheim unterdessen beschloss der Gemeinderat im
Juni 1933, "da die politische Entwicklung der letzten Monate dies notwendig
erscheinen lasse" (Gemeinderatsprotokoll in der Ausst. d. Museums), die
nach Laemmle benannte Straße wieder umzubenennen, was die Familie tief
verletzte. Max Friedland, zuletzt Generalbevollmächtigter der Universal für
Europa, verheiratet mit einer Nichte Laemmles, hatte schon im März mit seiner
Familie das Haus der Laemmles Richtung Paris verlassen. Im Laupheimer
"Museum zur Geschichte von Christen und Juden" erinnert heute eine
eigene Abteilung mit Exponaten, die zu einem Großteil aus einer Schenkung der
Familie stammen, wieder an Carl Laemmle; außerdem ist das Gymnasium in Laupheim
nach ihm benannt - eine Ehrung, die auch half, die persönlichen Kontakte zu
Laemmles Großnichte in New York, einer Tochter Friedlands und zu den anderen
Familienmitgliedern in Los Angeles herzustellen, insbesondere zu Laemmles
Schwiegersohn Stanley Bergerman und zu seiner Nichte Carla.
Auch
die Erinnerung an Laemmle in Los Angeles verlief nicht gradlinig, wenngleich er
durch einen Stern auf dem Walk of Fame des Hollywoodboulevards vertreten und
dadurch immer präsent war. Aber die Frage, wie intensiv sich Universal an ihren
Gründer erinnert, hängt vom jeweiligen Mehrheitseigentümer ab. Im Jahr 2000
wurde einem großen Bürohochhaus der Name "Laemmle Tower" verliehen -
Zeichen des Gedenkens an den Firmengründer. In den Besucherbähnchen werden
Dokumentationen aus der Laemmle-Zeit gezeigt.
Die
Erinnerung an Hertha Nathorff ist ebenfalls mit der ehemaligen Lateinschule in
Laupheim verknüpft. Seit 1986 wird in ihrem Namen ein Preis für das beste
Abitur des Gymnasiums ausgelobt; die gute Erinnerung an ihre frühere Schule
hatte sie hierzu bewogen. Sie war das erste Mädchen, das 1905 zum Schulbesuch
zugelassen wurde. "Niemals hatte ich in all diesen Jahren zu spüren
bekommen, dass ich etwa nicht dazu gehörte oder weniger galt als die anderen,
weil ich Jüdin war" schreibt sie im Vorwort zu ihrem Tagebuch, dessen
Publikation im Jahr 1987 durch das Institut für Zeitgeschichte ihren Namen
wieder einem größeren Publikum bekannt gemacht hat. Bereits 1940 hatte sie das
Manuskript bei einem Wettbewerb der Harvard University mit dem Titel Mein Leben
in Deutschland eingereicht; es wurde mit einem Preis bedacht und verschwand im
Archiv. Wolfgang Benz, der Herausgeber, unterstreicht in seinem Vorwort jedoch
die Bedeutung dieser Aufzeichnungen: "Hertha Nathorffs Leben ist
exemplarisch, und sie protokollierte mit ihrem Alltag die Situation aller Juden
in Deutschland, die einzelnen Stufen der Diskriminierung bis zur Entrechtung,
bis zum Kampf ums nackte Überleben durch die Flucht aus der Heimat. Die andere,
nicht minder paradigmatische Bedeutung dieses Tagebuchs liegt darin, dass
dokumentiert wird, wie der Kampf ums Überleben nach dem Überschreiten der
deutschen Grenzen weiterging. Viele andere Schilderungen setzen erst mit dem
Ende der Normalität - mit der Flucht, der Verhaftung, der Deportation - ein und
zeigen damit nur einen Ausschnitt [...]. Hertha Nathorff legt in der durchaus
subjektiven Beschreibung ihrer Erlebnisse und Erfahrungen von 1933 bis 1945 die
Zusammenhänge von Ablösung und Neubeginn, Zusammenbruch der Existenz und
Fortdauer so vieler Bindungen offen, daher ist ihr Tagebuch Singular und über
seinen literarischen Wert hinaus eine historische Quelle hohen Ranges." (Nathorff
1987, S. 16f.). Hertha Nathorffs literarische Arbeiten erschienen in
Privatdrucken mit kleiner Auflage; daneben publizierte sie viel in Zeitungen,
vor allem im New Yorker Aufbau. Der vielleicht wichtigste Teil ihres Wirkens,
ihre persönlichen Kontakte zur deutschsprachigen Emigrantenszene in New York
und zur Exilliteratur, ist dagegen nur unzureichend dokumentarisch rekonstruier-
und belegbar.
Siegfried
Einsteins Familie hatte nach dem Krieg nur ganz wenige Kontakte zu Laupheim.
1963 jedoch veröffentlichte sie in der Laupheimer Lokalzeitung für die
ehemalige Haushälterin eine Todesanzeige, die mehr darstellte als nur einen
Nachruf - sie war, 18 Jahre nach Ende der NS-Zeit, eine offene Anklage gegen den
ehemaligen Heimatort und seine mehrheitlich dem Vergessen zugeneigte Öffentlichkeit.
So heißt es dort:
Am
24. Januar 1915 kam sie als fleißige Helferin in unser Haus - zu einer Zeit, da
Juden noch nicht in Viehwagen in den Tod gefahren wurden; zu einer Zeit, da es
in diesem Laupheim noch eine stolze, geachtete Jüdische Gemeinde gab. Unsere
Agnes Nothelfer, die unser aller "Anna" war in hellen und finsteren
Jahren, verkörperte all jene Eigenschaften, über die man sonst nur in den schönsten
Märchen etwas erfährt. Sie war gut und voller Liebe, sie war reinen Herzens
und treu bis in den Tod. Treu - damals: als in einer kleinen Stadt nur noch
wenige Menschen es wagten, einem Juden die Hand zu geben...
Einsteins
Publikationen hatten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; die frühen
literarischen Werke erschienen in der Schweiz in kleinen Verlagen. Sein Nachlass
in Mannheim harrt noch der wissenschaftlichen Aufarbeitung. An seinem
Geburtshaus gibt es keine Gedenktafel; nur das Museum erinnert an ihn.
Lebensleistung
und Wirkung
Laemmles
Lebenswerk ist durch eine Fülle von Publikationen zu den Universal Studios,
Filmdokumente von Reden an die Mitarbeiter usw. gut dokumentiert, nicht zuletzt
durch die von ihm selbst bei dem damals recht bekannten englischen
Schriftsteller John Drinkwater in Auftrag gegebene Lebensbeschreibung (1931).
Nach seiner Ankunft in New York gelingt es Laemmle, seinen Bruder in Chicago über
die Illinois Staatszeitung ausfindig zu machen, wo dieser arbeitet; er holt ihn
zu sich. Nach diversen Tätigkeiten als Zeitungsverkäufer, Theaterstatist,
Farmarbeiter und Buchhalter erhält Laemmle 1889 die amerikanische Staatsbürgerschaft
und eine Anstellung bei der Continental Clothing in Oshkosh/Wisconsin. Laemmle
steigt zum Geschäftsführer auf und entwickelt sich zum Werbefachmann. 1898
heiratet er die aus dem hessischen Hintersteinau stammende Nichte des
Firmeninhabers und scheidet 1906 aus der Firma aus, zunächst mit dem Plan, in
Chicago ein Textilgeschäft zu eröffnen. Doch es kam anders, wie er sich später
erinnert:
Lustige
Bildergeschichten - das ist's, sagte ich mir. Lass die Leute zahlen und bring
sie zum Lachen. Jeder will lachen. Als ich in dieser Nacht zu meinem Hotel in
Chicago zurückging, begann ich meine Pläne zu umreißen und am nächsten Tag
brachte ich alles über das Geschäft in Erfahrung, was ich konnte. Drei Wochen,
nachdem ich diese komischen Bilder gesehen hatte, hatte ich mein eigenes Theater
in der Milwaukee Avenue. (Gabler1988, S. 52)
Laemmle
hatte die Nickelodeons gesehen, in denen für 5 Cent Filme gezeigt wurden - das
Massenmedium der Zukunft, wie Laemmle erkannte. Zehn Jahre zuvor hatte bereits
die Leinwand die Guckkastenvorführung abgelöst, und die so genannten
Storefront Theater hatten sich innerhalb eines Jahrzehnts, jenseits der
Mittelschichtkultur, in Arbeiter- und Immigrantenvierteln als Unterschichtvergnügen
etabliert, in denen vom Publikum die amerikanischen Traditionen und Mythen förmlich
aufgesogen wurden. Pittsburgh und Chicago waren die ersten Zentren. Das
Establishment der Ostküstenwirtschaft war am Filmgeschäft zunächst nicht
interessiert; die großen Studiogründer waren allesamt Juden europäischer
Herkunft, weshalb Gablers Untersuchung auch den treffenden Untertitel How the
Jews invented Hollywood trägt. Man hat später versucht, in den frühen Filmen
Spuren spezifischer Erfahrungen aus dem osteuropäischen Schtetl nachzuweisen, für
Laemmle gilt das sicher nicht. Aber in vielem sind die Biographien der Zukor,
Fox, Goldwyn, Lasky, Mayer, Fox und Warners und anderer vergleichbar.
Eine
Reihe unvorhergesehener Ereignisse, die Laemmle klug und entschlossen zu nutzen
wusste, markieren den rasanten Aufstieg seines Geschäfts. Rückblickend
verfasst er 1927 übrigens ein über zweihundertseitiges, bisher unpubliziertes
Manuskript über das Business in Motion Pictures. Bis in die
Kartellauseinandersetzungen der vierziger und fünfziger Jahre des 20.
Jahrhunderts waren die drei entscheidenden Ebenen des Filmgeschäfts - Theater,
Verleih, Produktion - und ihre Verschränkung entscheidend für den geschäftlichen
Erfolg. Laemmle stößt noch im Jahr 1906 ins Verleihgeschäft, weil der
Nachschub für seine Theater stockte, drei Jahre später war der Laemmle Film
Service der branchengrößte. Schon 1911 gab er das Vorführgeschäft wieder
auf.
Zwischenzeitlich
hatte sich im Filmgeschäft eine entscheidende Änderung vollzogen: die Gründung
der Patentgesellschaft, an der Spitze Edison, die durch Bündelung einer Reihe
von Patenten die Filmbranche unter Kontrolle zu bringen suchte. Zur selben Zeit
gründet Laemmle eine eigene Produktionsgesellschaft und lässt seinen ersten
Film, Hiawatha, nach der literarischen Vorlage von Longfellow drehen. Er schließt
sich gegen den Trust mit anderen zur Independent Moving Picture Company
zusammen. Zwei Mitstreiter haben Studios an der Westküste, im heutigen Los
Angeles, und so verlagert sich langsam der Schwerpunkt der Filmindustrie von der
Ost- zur Westküste - Laemmle wird Hollywoodpionier, baut als erster die Namen
der Schauspieler in seine Werbung ein und begründet so das Starsystem, zu dem
später Erich von Stroheim, Lon Chaney, Bela Lugosi und Boris Karloff gehören
werden.
1912,
nach Veränderungen in der Zusammensetzung der teilnehmenden Firmen, wird in New
York die Universal gegründet. Laemmle wird 1914 ihr Präsident, ein Jahr später
eröffnet er das Studio in Hollywood, noch heute das größte, das für Besucher
geöffnet ist. Laemmle schreibt zur Eröffnung:
[...]
eine ganze Stadt, in der jeder mit Filmproduktion beschäftigt ist, ein Märchenreich,
in dem die verrücktesten Dinge auf der Welt passieren - ein Ort, an den man ein
Leben lang denken und über den man reden wird! Sehen Sie, wie wir Brücken
hochgehen lassen, Häuser abfackeln, Autos zu Schrott fahren -überhaupt, etwas
zerstören, um den Leuten die Bilder zu geben, die sie wollen [...] um die Leute
auf der ganzen Welt dazu zu bringen, zu lachen oder zu weinen oder auf der
Stuhlkante zu sitzen. (Hirschhorn 1983, S. 12)
Allein
das Stummfilmverzeichnis der Universal-Produktion enthält 9397 Titel. Die geschäftlichen
Kontakte mit Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg münden 1929 in der Gründung
der "Deutschen Universal". Seit 1929 durfte Laemmles Sohn Julius die
Produktion der Firma bestimmen. In diese Zeit fallen die interessantesten und
filmgeschichtlich bedeutendsten Werke nach literarischen Vorlagen. Die
Bildsprache des Horrorfilms - das Genre, für das Universal vor allem bekannt
ist - orientiert sich teilweise stark an den künstlerischen Gestaltungsmitteln
des deutschen Films der zwanziger Jahre, insbesondere des expressionistischen.
Dazu zählen vor allem der Hell-Dunkel-Kontrast, der Einsatz von Licht und
Schatten zur Schaffung einer unheimlichen Atmosphäre sowie eine übersteigerte
Gestik. Wie in Mary Shellys Frankenstein, Stokers Dracula oder Leroux' Phantom
der Oper, kann Horror als "eine Gattung der Phantastik" definiert
werden, "in deren Fiktionen das Unmögliche in einer Welt möglich und real
wird, die der unseren weitgehend gleicht, und wo Menschen, die uns ebenfalls
gleichen, auf diese Anzeichen der Brüchigkeit ihrer Welt mit Grauen
reagieren." (Baumann 1993a, S. 109). Der Horrorfilm realisiert in extremer
Form die prinzipielle Chance des neuen Mediums, jenseits der Schranken unserer
Erfahrungswelt eine neue Welt zu schaffen. In Frankensteins Braut erfährt die
literarische Vorlage sogar eine filmische Fortsetzung. Der Glöckner von Notre
Dame und Der Mann, der lacht von Hugo gehören ebenfalls zu den europäischen
Literaturvorlagen; auch Werke von E. A. Poe dienen als Ausgang für
Verfilmungen. Eine Sonderstellung im Programm der Universal nimmt die mit zwei
Oscars ausgezeichnete Verfilmung von Remarques Im Westen nichts Neues ein. Der
Film sollte ursprünglich in Laupheim uraufgeführt werden, wird dann aber zunächst
1930 in Berlin gezeigt und, nach Störungen durch die extreme Rechte, von der
Film-Oberprüfstelle für ein Dreivierteljahr mit der Begründung verboten, er
verletze das Ansehen des Kriegsteilnehmers auf das empfindlichste. Die Deutsche
Universal produziert noch 1932/33 einen Film über eine Polarexpedition, der
wegen seiner Mitwirkenden, Leni Riefenstahl und Ernst Udet, bemerkenswert ist.
Zu den filmgeschichtlichen Pionierleistungen der Universal gehört des weiteren
das Genre des Science Fiction Films (Flash Gordon) und Walt Disneys erste
Mausfigur für den King of Jazz (1930). Zu den bedeutenden Regisseuren, die für
die Universal gearbeitet haben, zählen der schon als Schauspieler genannte von
Stroheim, Louis Milestone, John Ford und William Wyler, ein Verwandter Laemmles.
Laemmle Juniors anspruchsvolleres, nicht nur am kommerziellen Erfolg
orientiertes Programm, die Umstellung auf den Tonfilm und die
Weltwirtschaftskrise waren die wichtigsten Faktoren, die die Universal zunehmend
in finanzielle Schwierigkeiten brachten und schließlich die Laemmles 1936 zum
Verkauf an einen Kreditgeber zwangen. Damit endete auch für Julius die Rolle in
der Filmbranche. Erstirbt 1979.
Hertha
Nathorffs literarisches Werk besteht aus Gedichten und Prosaskizzen, die sie vor
allem für Zeitungen schrieb. An ihren Arbeiten, insbesondere an den Gedichten,
wird deutlich, welch existenzielle, persönliche Bedeutung Schreiben in
bestimmten Lebenssituationen haben kann. Ihre Texte verfolgen keine artistischen
Ansprüche, sondern orientieren sich formal und inhaltlich eher an
traditionellen Mustern. Die Klassik hatte - sicher bezeichnend für das
deutsch-jüdische Bildungsbürgertum - für sie einen hohen Stellenwert, so dass
Hertha Nathorff vom Bücherschrank mit der Weimarer Goethe-Ausgabe als einem
"Hausaltar" sprechen konnte. Aus dem 1966 erschienenen Bändchen
Stimmen der Stille soll hierein Gedicht vorgestellt werden, das die wichtigsten
Stationen ihres Lebens, Erinnerung und Gegenwart, evoziert:
DREI
STÄDTE
Wenn
ich träume: LAUPHEIM
Dann
ist das Kinderland, Jugendland;
Schwabenerde,
duftend und süß, würzig
Und
eine alte, traute Volksweise: Rosenstock, Holderblüt...
Und
wenn ich denke: BERLIN
Dann
ist das Herzensland,
Großstadtluft,
wirbelnder Wind
Frauenlieb,
Mutterglück, Erfüllung. Erfolg im Bern
Brausende,
rauschende tönende Melodie
Beethoven
ist es und Mozart zugleich.
Und
wenn ich dann spüre: NEW YORK,
Dann
ist das Völkergemisch
Hasten
und Jagen in Wetter und Sturm
Kummer
und Not -
Und
manchmal sich lösend im Stimmengewirr
Melodien
in Dur und in Moll.
Gershwin
ist es und Sousa und Jitterbug -
(Nathorff
1966)
Beginnen
wir mit Laupheim. Als erste Schülerin besuchte Hertha Einstein die Laupheimer
Lateinschule, was seinerzeit für so ungewöhnlich galt, dass die widerstrebende
Stuttgarter Kultusbehörde erst überzeugt werden musste. Ihr Abitur legt sie in
Ulm ab. Die Studienjahre konfrontierten die Medizinstudentin zum ersten Male mit
dem vor allem auch im akademischen Bereich virulenten Antisemitismus; so musste
sie von einem Professor hören, der Name Einstein sei keine Empfehlung für sie.
Nach ihrer Promotion in Heidelberg eröffnete Hertha Nathorff zusammen mit ihrem
Mann Erich eine Praxis in Berlin und wurde 1923 leitende Ärztin am Entbindungs-
und Säuglingsheim des Roten Kreuzes. Sie richtete eine der ersten Ehe- und
Familienberatungsstellen in Deutschland am Krankenhaus Berlin-Charlottenburg ein
und wirkte als Mitglied der Medizinischen Gesellschaft, der Berliner Ärztekammer
und, als erste Frau, im Gesamtausschuss der Berliner Ärzte. Ihre Arbeit fand,
wie erwähnt, 1933 ein jähes Ende.
Die
Ankunft in New York im Februar 1940 stellt die Emigrantenfamilie vor eminente
Schwierigkeiten. Immigrierte Mediziner müssen zunächst eine Sprachprüfung
ablegen, dann ein medizinisches Examen. Hertha Nathorff verdient mit Putztätigkeit,
als Küchenhilfe oder durch Krankenpflege den Lebensunterhalt. Etwa ein Dollar
bleibt ihnen zunächst zum täglichen Leben, so ist es für sie illusorisch, die
Voraussetzung für eigene Berufstätigkeit zu schaffen. Ihr Mann Erich besteht
zwar das Examen, aber für die Praxiseinrichtung fehlt das Geld. Hertha Nathorff
legt ebenfalls die Sprachprüfung ab, aber ihr Mann sieht es nicht gerne, dass
auch sie sich auf das Medizinexamen vorbereiten will. Nur eine Prüfung als
Nurse absolviert sie und hilft in der Praxis mit. 1944 versucht sie noch einmal
über einen jüdischen Ausbildungsfonds Unterstützung für eine Ausbildung als
Medizinerin zu bekommen, was aber abgelehnt wird. Erich Narthoff hat größtenteils
Emigranten, teilweise Berliner Bekannte, als Patienten. Anfang 1942 beginnt
Hertha Nathorff mit einer Tätigkeit, die ihr Leben für Jahrzehnte ausfüllen
und ihrem Namen ein dankbares Erinnern sichern wird. "Charwoman during the
day, Chairwoman at night" - tagsüber Putzfrau, am Abend Vorsitzende, wie
sie den täglichen Rollenwechsel treffend umschreibt. Aus eigener Erfahrung mit
den Schwierigkeiten von Immigranten bei der Ausübung ungewohnter sozialer
Berufe vertraut, bietet sie dem New World Club (seit 1934 auch Herausgeber des
Aufbau) unentgeltliche Kurse an, zunächst in Krankenpflege. Dann aber weitet
sich ihre Tätigkeit auf kulturelle Aktivitäten aus, worunter vor allem Vorträge
im deutschsprachigen Rundfunk zu nennen sind. Sogar mit Klavierspiel und Gesang
in einem Restaurant verdient sie einige Extradollars. Später macht sie der New
World Club zum einzigen auf Lebenszeit gewählten Ehrenmitglied des
Direktoriums. Der Aufbau veröffentlichte die meisten ihrer Essays, Gedichte und
Berichte, außerdem schreibt sie für die in Wisconsin erscheinende Welt und den
American Herold. Sie wurde, was ihr besonders wichtig war, als Psychologin
zugelassen, gehörte dem Stab der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic an und war
Mitglied der Virchow Medical Society sowie der Association for the Advancement
of Psychotherapy. Die Fülle persönlicher Kontakte mit der deutschsprachigen
Emigrantenszene und ihrer Kultur, u.a. im "Literarischen Verein", hat
von ihrer Seite leider keinen schriftlichen Niederschlag gefunden, sondern war
nur im Gespräch über ihre persönlichen Erinnerungen lebendig.
Siegfried
Einsteins erster Gedichtband Melodien in Dur und Moll (1946) trug ihm Lob und
Anerkennung von Hermann Hesse und Thomas Mann ein. Hier findet sich auch sein
bekanntestes Gedicht, das den Bezugspunkt seiner schriftstellerischen Existenz
insgesamt formuliert:
SCHLAFLIED
FÜR DANIEL
Wir
fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und
es ist Nacht.
Die
Scheiben klirren im Wind,
da
sind die Toten erwacht,
die
Toten von Auschwitz, mein Sohn. Du weißt es nicht
Und
träumst von Sternschnupp' und Mohn Und Sonn- und Mondgesicht.
Wir
fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und
es ist Nacht.
Die
Toten stöhnen im Wind:
Viel
Menschen sind umgebracht.
Du darfst nicht schlafen, mein Sohn, Und träumen von seliger Pracht.
Sieh
doch! Es leuchtet der Mohn Wie Blut so rot in der Nacht.
Wir
fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und
es ist Nacht.
Die
Toten klagen im Wind -
Und
niemand ist aufgewacht...
(Einstein
1946)
1952
ging Einstein nach Deutschland zurück, zuerst nach Lampertheim, dann nach
Mannheim. Dort wirkte er als Dozent für Deutsche Literatur. Er verlagert sein
schriftstellerisches Interesse auf publizistische Tätigkeit, in der er vor
allem das Verhältnis der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zu den
Verbrechen der NS-Zeit thematisiert. Seine Arbeiten erscheinen, den Zeitumständen
der sechziger Jahre geschuldet, zumeist in Zeitungen und Zeitschriften, die als
politisch links galten und somit zu dieser Zeit nur einen beschränkten
Leserkreis erreichten; es handelt sich dabei vor allem um den Simplizissimus,
die Neue Zeitung in München und die Hamburger Andere Zeitung. Einsteins Stimme
kam gewissermaßen zu früh.
Sein
letztes Buch Eichmann - Chefbuchhalter des Todes (1961) verdankt, ähnlich wie
Hannah Arendts Untersuchung, seine Entstehung dem Eichmann-Prozess in Jerusalem.
Der Text ist in seiner Verbindung von Dokumentation und Zitat mit literarisch
gestalteter Anklage, persönlicher Erinnerung an Opfer, Familiengeschichte und
Zeitgeschichte in keine Gattung einzuordnen. Es ist dem Andenken von Einsteins
Vaters gewidmet, "des Mannes, der mit allen anderen Juden im württembergischen
Laupheim vor der brennenden Synagoge knien und schreien musste: Wir haben die
Synagoge angezündet! Eichmann allein hätte nicht einen einzigen Wehrlosen in
die Gaskammer, unter die Genickschußmeßlatte zwingen können" (Einstein
1961, S. 11). Der Schlusstext Ich klage an war in seiner radikalen Gegnerschaft
gegen die Schlussstrichmentalität dieser Restaurationsepoche der jungen
Bundesrepublik wohl kaum geeignet, dem Autor öffentliche Sympathien
einzutragen: "Ihre Worte von Demokratie und Freiheit sind Schall und Rauch.
Sie haben unter Hitler und Eichmann gedient, Sie hatten in der Stunde des
Gewissens nicht einmal ein Herz für die Gequälten, Gefolterten und
Ausgepeitschten in diesem Europa - und Sie, meine Herren, wollen nun von
,Demokratie' sprechen? Ihre Worte sind Lügen." (Ebd., S. 177) 1962 wird
Einstein zum internationalen Weltfriedenskongress nach Moskau eingeladen, zwei
Jahre später erhält er den Kurt-Tucholsky-Preis. Eine rege Vortragstätigkeit
löst die Arbeit für Zeitungen zunehmend ab. Erst posthum werden zwei schmale Bände
mit Gedichten und Essays, teilweise aus dem Nachlass, veröffentlicht: Meine
Liebe ist erblindet (1984) und Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen?
(1987). Die Titelgeschichte in Schofar ruft die Erinnerung an den Laupheimer
Kantor zurück, greift aber vor allem im Gedenken an jüdische Dichter deutscher
Sprache ein lebenslanges Thema Einsteins noch einmal auf: die Beschäftigung mit
Autoren, die wie er Außenseiter waren. Seine Bemerkung über Else Lasker-Schüler
gilt in gewisser Weise auch für seine Gedichte: "Doch wusste sie wie
selten eine Dichterin, die [...] mit der Erkenntnis eines Hiob lebte, das große
Grauen sichtbar zu machen: die ganze Tiefe der Demütigung, die Trauerbotschaft
ohne Ende, den Todesschweiß" (Einstein 1987, S. 101). Auffällig an den späten
Gedichten ist, dass sich bei Einstein weder Einflüsse der beiden für die
Nachkriegsliteratur bedeutsamen Antipoden Benn und Brecht noch Bezüge zur so
genannten Kahlschlag-Literatur zeigen. Das gleiche gilt für die formale Kühnheit
Paul Celans, die bei Einstein fehlt - trotz der minimalen Altersdifferenz von
einem Jahr bei vergleichbarer Biographie bzw. analogen politischen Erfahrungen.
Wenn das leidende Ich, das beschädigte Leben im Zentrum der Gedichte Einsteins
stehen, so überrascht es nicht, wenn sich auch hier keine Spuren typisch
"linker" politischer Überzeugung bzw. Utopien finden; offenkundig
bedeutete "links" für Einstein im Kern vor allem Antifaschismus, ohne
aus dieser Haltung heraus einen positiven Gegenentwurf zu wagen. Politisch
variiert Einstein das Thema Verfolgung. Sicher liegt eine Ursache seiner relativ
geringen Resonanz auch in der Nichtteilnahme am aufblühenden literarischen
Leben in der Bundesrepublik mit seinen Publikationsforen und Eitelkeiten, die
offenbar für einen Außenseiter wie ihn keinen Platz und keine
Identifikationsfolie boten.
Heimat
und Judentum
Laemmles
Beziehung zu seiner bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung immer noch
als ein Stück Heimat empfundenen Geburtsstadt wird, vor allem angesichts seiner
Prominenz, von den politischen Ereignissen überschattet. Er trifft sich in der
Schweiz oder in Carlsbad mit Verwandten und Bekannten und hilft, wie kurz
skizziert, in außergewöhnlicher Weise. Noch 1932 organisiert er zusammen mit
anderen sogar eine Sammlung für die deutschen Olympiateilnehmer in Los Angeles,
um ihnen die Überfahrt zu ermöglichen. Sicherlich hat die Verfolgung der Juden
bei Laemmle auch zu einer stärkeren Rückbesinnung auf die Solidarität mit dem
Judentum beigetragen; die deutschstämmigen Juden in Los Angeles fühlten sich
eigentlich eher der amerikanischen Oberschicht zugehörig. Hertha Nathorff hat
ihrem Verhältnis zu den drei wichtigsten Orten in ihrem Leben und damit auch
der Erinnerung an Deutschland das oben zitierte Gedicht gewidmet. 1967 erhält
ihr Wirken durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes die offizielle
Anerkennung. Dennoch hat sie Deutschland nie wieder gesehen; und wie ernst ein
Angebot war, das sie in ihren Beruf nach Deutschland zurückholen wollte, ist
schwer abzuschätzen; eher scheint es so, dass auch bei ihr nicht wirklich
versucht wurde, die Emigrantin zurückzugewinnen. Die kurz vor ihrem Tod noch
entstandene Filmdokumentation ("Traumspuren" 1993 von Patrick Hörl,
Film des Bayer. Rundfunks) zeigt ihr Leben in Amerika als Beispiel einer nie
gelungenen Integration und Identifikation mit dem neuen Land, trotz der großen
persönlichen Anerkennung, die ihr Wirken gefunden hat. Ein Gedicht aus Stimmen
der Stille verdeutlicht, dass dieses Gefühl der Heimatlosigkeit sie nie
verlassen hat und der Verlust ihres 1954 verstorbenen Mannes kaum zu überwinden
war:
AN
MEINEN MANN
HEIMAT
- wo?
Das
neue Land - ob es mir wirklich Heimat ist?
Ich
frag's mich oft. Und ob mein Herz
Nicht
doch so Mancherlei vermißt.
Ich
frage mich. Und lausch' in mich hinein
Und
kann mir selber keine Antwort geben.
War
Heimat dort? Ist Heimat hier?
Ich
weiß es nicht. Und weiß nur dies:
Ein
tiefer Riß geht durch mein Herz,
Geht
durch mein ganzes wirres Leben.
Und
weiß noch mehr wo immer ich auch weilen mag -
Nicht
Land, nicht Heim gibt meinem Herzen Ruh.
Nur
eine einzige Heimstatt hab ich noch,
Darin
ich wurzle. - Das bist - DU.
(Nathorff
1966)
"Der
Heimatlose bin ich hier / und dort, / in allen Städten und auf allen / Gassen.
/ Da ist, so weit ich denken kann, kein Ort, / den nicht der Fremdling, der /
ich bin, verlassen." Auch diese Verse aus Siegfried Einsteins Gedicht
thematisieren das Gefühl der Heimatlosigkeit mit unüberbietbarer Prägnanz; es
ist die Folgerung aus den politischen Ereignissen, die sein Leben prägten. Das
Gedicht In meine Heimat nur im Tod erinnert noch einmal an das Trauma der
Jugendzeit und definiert zugleich das Verhältnis zur Geburtsstadt mit einer
Konsequenz, die Einstein auch lebte; doch schließt es, in der Evokation des Stückchens
Land, das den Ahnen Heimat war, diese Rückkehr dann im Tod ein - Versöhnung
kann man es nicht nennen. Siegfried Einstein wurde auf dem jüdischen Friedhof
bestattet - wie übrigens nach 1945 auch andere ehemalige Mitglieder der jüdischen
Gemeinde. Der Kreis seines Lebens wird durch die doppelte Metaphorik des Steins
geschlossen.
IN
MEINE HEIMAT NUR IM TOD...
In
meine Heimat möchte ich nicht zurück,
Nicht
an den Ort, aus dem sie mich vertrieben.
Ich
fühl, solang ich leb, das harte Stück
Des
Steines, den sie johlend mir verschrieben
"Zur
Strafe für den Juden", wie sie keuchten;
Vortrefflich
zielten sie auf meine Stirn
Und
als ich wankte, sah ich nur ein Leuchten:
Im
Gleitflug kam mein Traum von Tod und Hirn.
In
meine Heimat möchte ich nicht zurück,
Solang
dies kranke Herz noch pocht im Schlaf.
Doch
sucht, ihr Männer Laupheims, sucht das Stück
Des
Steines, der mich einst vorzüglich traf.
Und
einer werf symbolisch ihn mir zu,
Eh
der Rabbiner mir drei Schaufeln Erde gibt.
Das
Stückchen Land, das meine Ahnen so geliebt,
Es
diese mir im Tod zur letzten Ruh.
Das
Bekenntnis zum Judentum und die Erinnerung an die Religion seiner Kindheit ist
in seinem Werk bis zuletzt greifbar - darin unterscheidet sich Einstein
wesentlich von anderen Autoren jüdischer Herkunft der Nachkriegszeit, die zur
politischen Linken gehören. Die Verbindung von deutscher Sprache und Judentum
ist das Charakteristikum der Mehrheit der Autorinnen und Autoren, über die er
geschrieben hat und die uns heute sicher gegenwärtiger sind als noch der Zeit,
da Einstein an sie erinnerte: "die großen glänzenden Talente, die
Deutsche waren und Juden, Dichter jüdischen Glaubens und deutscher
Sprache" (Einstein 1987, S. 96). Einsteins Werk stellt in seinen
gedanklichen Wurzeln das späte Beispiel einer unwiederbringlichen Epoche
deutsch-jüdischen Zusammenlebens dar. Das erklärt auch, weswegen er an keine
Gruppe des Literaturbetriebs im Nachkriegsdeutschland Anschluss findet. Levinson
resümiert die existenzielle Verbindung von Persönlichkeit und Religion, wenn
er im Nachwort zu dem 1987 erschienenen Auswahlband Einstein folgendermaßen
charakterisiert: "Und er war der exemplarische Jude, nicht orthodox, nicht
observant, aber von einer stolzen, eindrucksvollen, unerschütterlichen Loyalität."
So
spiegeln sich in Leben und Leistung dreier Persönlichkeiten aus jüdischen
Familien einer kleinen oberschwäbischen Stadt die prägenden politischen
Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und die Bedeutung dessen,
was wir mit Heimat, Auswanderung und Emigration an Bedeutung verbinden, wird
exemplarisch greifbar.